Albanien Die verlorenen Söhne kehren heim
Es ist noch nicht 9 Uhr abends, da sitzen die Reichen und Schönen von Tirana wieder im Dunkeln: der zweite Stromausfall hintereinander in der "Radio Bar". Kein Gast murrt, man trinkt nun bei Kerzenlicht.
Muharrem Cobo lässt sich sehen an diesem Abend, er keltert den teuersten Wein Albaniens; ein paar Meter entfernt steht Agron Shehaj, der sein Geld mit Call Centern macht; Regie im Getümmel führt Redi Panariti, Miteigentümer der "Radio Bar".
Das Szenelokal liegt im früheren Sperrbezirk Blloku. Hier, abgeschottet vom Alltag des werktätigen Volks, lebte bis zu seinem Tod 1985 Enver Hodscha samt kommunistischer Kamarilla. Während der vier Jahrzehnte dauernden Diktatur wurde Albanien zum blinden Winkel Europas - zu einer mit 700.000 Stahlbetonbunkern bewehrten Trutzburg gegen westlichen Imperialismus und östlichen Revisionismus gleichermaßen. Dem Terrorregime der gottlosen Stalinisten fielen Tausende Albaner zum Opfer.
2009 eröffnete in einer Drei-Raum-Wohnung des Blloku-Viertels die "Radio Bar" - ausstaffiert mit museumsreifen Rundfunkgeräten, Möbeln aus volkseigener Produktion und einer Batterie hochwertiger Spirituosen.
"Außer Wodka Red Bull kannten die hier keine Cocktails, als ich zurückkam", sagt der Barbesitzer Panariti. Er wuchs in Tirana auf, arbeitete aber später neun Jahre lang in Italien, unter anderem als Barmann. Seit seiner Rückkehr bietet er der neuen Elite des Landes um den Milliardär Samir Mane alles von Wodka Sour mit Passionsfrucht bis zu Sex on the Beach.
Auch viele Gäste legten den Grundstein für ihre Karriere im Ausland. Cobo, der Winzer, hat ein Jura-Diplom von der Universität Trento in der Tasche. Shehaj, der Call-Center-Krösus, studierte Wirtschaft in Florenz. Und Erxhan Hyseni, heute Sicherheitsexperte bei Albaniens Luftfahrtbehörde, schaffte es bis in die US-Elite-Truppe der Marines. Drei Männer, drei Lebenswege, eine Gemeinsamkeit: Alle drei flüchteten 1991 vor Armut und Anarchie in Albanien - auf gekaperten Schiffen übers Meer hinüber zur italienischen Küste.
Die Zahl der Rückwanderer wächst
Die Bilder der mit Halbverdursteten überladenen Kähne gingen um die Welt. Heute, 24 Jahre später, leben Cobo, Shehaj und Hyseni wieder in ihrem Geburtsland.
Für eine Heimkehr der verlorenen Söhne sprach lange Zeit nichts. Erst die stetig steigende Arbeitslosenquote in Italien, aktuell 11,7 Prozent, und Jahre ununterbrochener Rezession veränderten die Lage. Noch lebt eine halbe Million albanischer Gastarbeiter zwischen Bozen und Palermo; doch die Geldtransfers sind dramatisch geschrumpft, die Zahl der Rückwanderer wächst. 2013 verließen 46.000 Albaner ihr Gastland Italien in Richtung Heimat.
Hinzu kommt: 19.000 italienische Bürger und mehr als 400 Firmen sind inzwischen nach Albanien übersiedelt. Ein Gewerbe in Rom anzumelden dauert Wochen; in Tirana genügt dafür ein Tag. Körperschaftssteuern von 15 Prozent und ein niedriger Einkommensteuersatz locken zusätzlich. Durchschnittliche Monatslöhne von 374 Euro versprechen Unternehmern fette Margen. Und auch an Nachwuchskräften fehlt es nicht in Albanien, dem nach Moldau zweitärmsten Land Europas: 30 Prozent der Bevölkerung sind unter 18.
Agron Shehaj, Jahrgang 1977, ist der derzeit meistbestaunte Rückkehrer im Land: ein schmächtiger, schlagfertiger Bursche, der durch seine Firma wieselt und Gästen Kaffee serviert. Aus Hodschas Albanien, "einer Art Nordkorea am Mittelmeer", flüchtete er im Alter von 13 Jahren. Shehajs Weg, von der Ankunft in Brindisi über die Jugendjahre in Bozen bis zur Rückkehr nach Albanien, war Gegenstand eines Dokumentarfilms und mehrerer Berichte im italienischen Fernsehen.
Natürlich zieht das Neid nach sich. Der Vorwurf aber, er beute Beschäftigte aus, lasse ihn kalt, sagt Shehaj. Sein Call-Center-Unternehmen IDS bezahle überdurchschnittlich gut: 400 Euro monatlich für Vollzeitbeschäftigte. Als die Firma 2005 gegründet wurde, waren 20 Mitarbeiter an Bord. Inzwischen sind es 3000. Shehaj ist einer der größten privaten Arbeitgeber Albaniens.
Italien sieht er, bei aller Dankbarkeit gegenüber den Menschen, als Land des "non si può fare" - als Land der Risikoscheu und der bürokratischen Hemmnisse. "Ich habe am Ende Heimweh nach Albanien verspürt, und ich wollte Unternehmer werden", sagt Shehaj - wobei er das Wort Unternehmer mit dem Stolz desjenigen betont, der endlich sein eigener Herr ist; und das in einem Land, in dem Privateigentum jahrzehntelang verboten war. Ein Call Center zu gründen, lag nahe: Die meisten Albaner sprechen Italienisch. Der italienische Staatsender Rai, mit selbstgebastelten Antennen empfangen, war in den Jahren der Diktatur die Nabelschnur zur Restwelt.
Sein Geschäftsprinzip sei einfach, sagt Shehaj: "Du kannst als Unternehmer nur Produkte anbieten, für die du die richtigen Leute hast; ich würde grundsätzlich sogar Flugzeuge bauen in Albanien - aber mit wem? Die meisten Menschen in diesem Land haben nichts gelernt. Einen Geschäftsführer zum Beispiel muss ich mir in Italien suchen; und ihm außerdem ein Drittel mehr bezahlen, als er dort verdient."
"Der Weg nach Europa ist noch weit"
Jene, die nach Shehajs Meinung weder zum Flugzeugbau noch zur Geschäftsführung taugen, sitzen im Erdgeschoss: An die hundert Männer und Frauen in einem Raum telefonieren hier, getrennt durch Sichtblenden aus Fichtenholz, mit Italien. Es ist ein Summen und Brummen wie im Bienenstock.
Shehajs Truppe hat eine Mission: in möglichst makellosem Italienisch den Kunden großer Firmen wie Vodafone, Eni oder Telecom Verträge zu verkaufen, von denen sie bisher nichts wissen wollten; oder Klauseln zu erklären, die sie nicht verstehen. Die Namen der besten Mitarbeiter werden - so wie jene der Plan-Überfüller zu kommunistischer Zeit - veröffentlicht. Neben Motivationssloganslogans, Marke: "Warte nicht, bis dein Schiff im Hafen anlegt, schwimm ihm entgegen."
Trotzdem sind in der Kunst, neue Vodafone-Flatrate-Verträge unters Volk zu bringen, nur wenige so erfolgreich wie die blonde Malvina aus der letzten Reihe - von Kollegen das "Biest" gerufen, weil sie sich in Kunden verbeißt wie keine sonst. Zähigkeit am Arbeitsplatz sei unter Albanern selten, klagt der Firmenboss. Er, dem hier alles zu langsam geht, erwägt inzwischen, seine Heimat ein zweites Mal zu verlassen: "Von den Einheimischen setzen sich bisher vor allem die Schlitzohren durch", sagt Shehaj, "die Tüchtigen in sämtlichen Berufen sind Ausländer."
Den Befund bestätigt Pasquale Fiore. Er sitzt vor der "Casa della Pasta", dem Restaurant, in dem er Chefkoch ist: ein mürrischer Mann kurz vor der Rente, der seit elf Jahren in Tirana lebt - seit ihn ein albanischer Geschäftsmann mit einem Gehalt köderte, das seinen Verdienst in Italien um mehr als das Dreifache überstieg.

Tirana, 20. Februar 1991: Demonstranten stürzen die Hoxha-Statue
Foto: L. LIKA/ ASSOCIATED PRESS
Albanische Flüchtlinge in Brindisi am 10. März 1991: Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben
Foto: Massimo Sambucetti/ AP
Im Hafen von Brindisi am 13. Juli 1990
Foto: JOEL ROBINE/ AFP"Ein Angebot, das ich unmöglich ablehnen konnte", sagt Fiore: "Köche sind Legionäre und gehen dorthin, wo es Arbeit gibt; die Zeiten, da Italien das Sehnsuchtsland der Albaner war, sind lange vorbei." Fiore stammt aus Bari, wo im August 1991 der Ozeandampfer "Vlora" mit mehr als 20.000 Flüchtlingen an Bord einlief. Er hat sie ankommen und später wieder abreisen sehen. Auch die Rückkehrer werden am Hauptübel Albaniens, so der Koch, nicht viel ändern können: "Es gibt hier keine Kultur der Arbeit; in dieser Hinsicht ist der Weg nach Europa noch weit."
Blickt man auf das Blloku-Viertel, fällt das Bild bunter aus. Während vor der Ethem-Bey-Moschee am Skanderbeg-Platz die Gebetsmatten der Frommen bis auf den Gehweg liegen, sorgen Mädchen in Miniröcken und Jungen mit Wollmützen im Bob-Marley-Stil für Umsatz. Mehr als 300 Bars und Restaurants gibt es in der ehemaligen Sperrzone; sogar die Hodscha-Villa mit ihren leeren Zierfischbecken im Park beherbergt ein Etablissement, in dem die Kellner formvollendet servieren.
Die ehemalige Hausherrin hier, Hodschas 94 Jahre alte Witwe, ist ins Arbeiterviertel Lapraka umquartiert. Einer ihrer Enkel sitzt seit Januar wegen Drogenhandels in Haft. Und auch der frühere Hodscha-Leibarzt Sali Berisha, nach der Wende Staatspräsident, Premier und Oppositionsführer, hat nichts mehr zu bestellen. Spricht er im Fernsehen über das neue Albanien, dann blicken die Hipster vor den Großbildschirmen in den Bars nicht einmal mehr von ihren Kaffeetassen auf.
"Ich habe Berisha anfangs als Hoffnungsträger gesehen", sagt Muharrem Cobo. Der Mann, der mit seinem Bruder das berühmteste Weingut Albaniens betreibt, war unter den ersten, die 1991 in Tirana gegen das Regime der Noch-Kommunisten zu demonstrieren wagten; und unter den ersten, die zwei Wochen nachdem die bronzene Hodscha-Statue in Tirana vom Sockel gekippt war, die Gunst der Stunde nutzten: Cobo bestieg am 6. März mit Tausenden anderen ein Schiff nach Brindisi.
Sein Studium in Trento finanzierte er mit Jobs als Putzmann, Nachtportier und Helfer bei der Apfelernte. Er kellnerte, verkostete Wein und verlor dabei die Heimat nie aus dem Blick. Weinbau gab es in Albanien schon zu vorrömischer Zeit. Also begann Cobo dort Reben zu pflanzen. Mit den Trauben wuchs der Wunsch, zurückzukehren.
Italien sei zu satt, sagt Cobo, trotz Krise fehle es dort an der nötigen 'grinta', am Biss: "Produktiv ist, wer Hunger hat." Knapp zwei Stunden Fahrt von Tirana entfernt, vorbei an Eselskarren und Fabrikruinen, liegt das Weingut nahe der mehr als zweitausendjährigen Stadt Berat. In stählernen 10.500-Liter-Tanks gärt hier, computerüberwacht, der Stoff, aus dem 80.000 Flaschen pro Jahr werden.
Cobo pflanzt autochthone Rebsorten, lässt sich einmal jährlich aus Italien fachlichen Beistand einfliegen. Einzustehen für Tradition und Qualität, sagt er, "das ist meine Art, etwas für dieses Land zu tun." Das Vorzeigeprodukt der Kellerei, der "Rote aus Berat", kostet ab Hof pro Flasche knapp 30 Euro. Deutsche, die sich aufs Weingut verirren und das hören, machen schlagartig kehrt. Durchreisende Franzosen verkosten und kaufen.
"Albanien ist kein schlechter Platz zum Leben"
Gäbe es mehr vom Schlag des Winzers Cobo, Albaniens Imageproblem wäre wohl geringer. Denn so sehr das Drei-Millionen-Volk nach Anerkennung im Westen strebt, so hartnäckig halten sich die Nachrichten über Drogenhandel, Korruption und Organisiertes Verbrechen.
Der im Juni 2014 erworbene Status als EU-Beitrittskandidat täuscht nicht darüber hinweg, dass in Tirana noch "grundlegende und nachhaltige Anstrengungen", so der EU-Fortschrittsbericht 2014, vonnöten sind.
Ob die Rückkehrer dabei helfen können, das Ruder herumzuwerfen? Einer aus dem Kreis der Boat People, die im März 1991 nach Italien kamen, ist nun Generalsekretär des Ministerrats. Auch der Premier selbst, Edi Rama, lebte jahrelang im Ausland. Als Bürgermeister von Tirana bewies er, wie sich ein schlechter Ruf mit Talent, Chuzpe und Eigen-PR bekämpfen lassen. Vom Regierungschef Rama stammt der Spruch, zu viel Ehrfurcht vor Italienern sei unnötig - die Nachbarn seien im Grunde nichts anderes als "Albaner in Versace-Klamotten".
Das aber könne nur behaupten, wer im März 1991 nicht dabei war, findet Erxhan Hyseni: "Ich werde den Italienern nie vergessen, wie sie uns damals empfangen haben." Halbverdurstet und verdreckt, weil auf dem gekaperten Schlepper "Lirija" nicht einmal eine Handbreit Platz für den Weg zur Toilette war, hatte Hyseni am 6. März 1991 die Hafenstadt Brindisi erreicht - mit 6000 anderen Flüchtlingen. Sie wurden von gerührten Italienern umarmt, verköstigt und neu eingekleidet.
Hyseni war 16, als er an Bord der "Lirija" ging. In Italien angekommen, nahm sich ein Priester im sizilianischen Palermo seiner an, ehe fünf Jahre später sein Leben eine neue Wendung nahm: Als Gewinner in der Greencard-Lotterie erhielt Hyseni ein Einwanderungsvisum in die USA.
Wenn er heute beim Bier im Blloku-Viertel an seine Anfänge in den USA denkt, bringt er sie auf ein typisch amerikanisches Motto: "Fake it till you make it" - Bluffe, bis du's drauf hast. Obwohl seine Englischkenntnisse sich damals auf Songtexte der Doors beschränkten, sagt Hyseni, habe er den Einstellungstest der US-Army im Multiple-Choice-Verfahren bestanden und dann zur Nationalhymne vorsichtshalber nur die Lippen bewegt.
Nach der Ausbildung bei den US-Marines kreuzte Hyseni ab 1998 gefechtsbereit vor den Küsten im Nahen Osten und in Afrika, nahm ab 2003 am Bodenkrieg in Irak teil. Später schickte ihn die US-Regierung ins albanischsprachige Kosovo - "der Aufklärung möglicher Kriegsverbrechen wegen", sagt Hyseni.
Es folgte ein Intermezzo als Architektur-Designer in Kalifornien, ehe es den Abenteurer 2011 zurück in die Heimat zog. Für einen Lohn von umgerechnet 430 Euro prüft Hyseni seither bei der Zivilen Luftfahrtbehörde in Tirana Passagierlisten auf mögliche Sicherheitsbedenken. Und lernt seine Familie, die er 1991 grußlos verließ, schätzen.
"Albanien ist kein schlechter Platz zum Leben, ich habe über die Jahre Schlimmeres gesehen", sagt Hyseni. Ob er und die anderen Rückkehrer mit ihren Erfahrungen viel ausrichten können, sei zu bezweifeln: "Die jungen Albaner wollen vor allem wissen, wie sie schnellstmöglich an ein Auto und ein iPhone kommen; und die Älteren geben uns zu verstehen, dass nicht ausgerechnet wir, die wir damals das Land verlassen haben, ihnen heute erzählen sollen, was sie zu tun haben."
Er habe sich nichts vorzuwerfen: "Ich bin damals ohne Gepäck, ohne Pass und ohne Eltern weggefahren; und bin heute stolz darauf, mit so viel mehr zurückgekommen zu sein."

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