Giftanschlag auf Kremlkritiker Nawalny
»Das ist ein Krimi, machen Sie sich's gemütlich«
Die Kremlmedien verschweigen, was über den Giftanschlag auf Alexej Nawalny bekannt wurde. Umso mehr Zuschauer findet der auf seinem YouTube-Kanal – mit einem Video über die Tat und den Geheimdienst FSB.
»Hallo, Nawalny hier. Ich weiß genau, wer versucht hat, mich umzubringen«, sagt der Mann im Video. Hinter ihm sieht man eine Zimmerpflanze, eine Salzlampe, einen Sessel, ein Fenster. Es ist der Anfang eines spektakulären und spektakulär erfolgreichen Videos, mit dem der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny seinen Landsleuten erklärt, wer seiner Meinung nach versucht hat, ihn im August dieses Jahres zu vergiften. Zehn Millionen Zuschauer haben sich das Video in den ersten 48 Stunden angeschaut.
Wenn es in diesem Tempo weitergeht, könnte es eines der meistgeschauten Videos werden, das Nawalny je veröffentlicht hat. Man vergisst ja oft, dass dieser Mann nicht nur der prominenteste Politiker in Russlands radikaler Opposition ist, sondern zugleich eine verblüffende Medienmacht besitzt. Mit seinem YouTube-Kanal versucht er, die Lücke zu füllen, die die kremltreuen Fernsehkanäle lassen. 37 Millionen Mal wurde sein Enthüllungsfilm über Ex-Premier Dmitrij Medwedew und dessen viele Residenzen gesehen, der 2017 erschien.
Die Lücke zwischen Kremlfernsehen und unabhängigen russischen Medien ist gerade jetzt groß, da Nawalnys Gesundheit selbst zum Nachrichtenthema geworden ist. Am Montag hat der SPIEGEL zusammen mit den Rechercheplattformen Bellingcat und The Insider sowie CNN einen Bericht veröffentlicht, der Russlands Regierung schwer belastet.
Demnach haben Offiziere des Inlandsgeheimdienstes FSB mit chemischer und medizinischer Ausbildung den Politiker über die vergangenen Jahre auf Dutzenden Reisen begleitet. Sie waren zur Stelle, als er im August 2020 vergiftet wurde, und ebenfalls, als seine Frau im Juli 2020 Symptome einer möglichen Vergiftung zeigte. Die Recherchen beruhen auf Telefondaten, Passagierlisten, Melderegistern – und führen bis in die oberen Ränge des FSB.
Nawalny erklärt im Video, wie der FSB ihm stets vorausreiste
Foto: Alexei Navalny / youtube
In einer demokratischen Öffentlichkeit wäre das ein Skandal. In Russland erfahren die Bürger kaum davon, nicht einmal in der Form eines Dementis. Kremlsprecher Dmitrij Peskow setzte am Dienstag sogar sein tägliches Briefing mit Journalisten aus. Als Grund wurde angegeben, er müsse sich auf die große Pressekonferenz des Präsidenten Wladimir Putin am Donnerstag vorbereiten. Aber viele vermuten, er wolle vorerst unangenehmen Fragen zum Fall Nawalny ausweichen. Die allermeisten Zeitungen schwiegen in den ersten zwei Tagen, ebenso sämtliche großen Nachrichtenagenturen.
Ausnahmen in der kontrollierten Medienlandschaft gibt es, aber sie erreichen nur wenige Menschen. Der Moskauer Radiosender Echo Moskaus, eine staatlich geduldete Nische für kremlkritische Großstädter, durfte mit Nawalny ein Interview führen, dessen harmlosere Aussagen anschließend von den Agenturen herausgepickt wurden.
Im Fernsehen fehlte jede Nachricht über die Anschuldigungen gegen den FSB. Am Dienstag flocht stattdessen der Chefpropagandist des Fernsehkanals Rossija 1, Wladimir Solowjow, ein paar kryptische Sätze zu Nawalny in seine abendliche Talkshow. Er sprach abschätzig von der »sogenannten Recherche«, die da zum »Berliner Patienten« veröffentlicht worden sei. Und tags darauf widmete sich immerhin eine Talkshow im Ersten Kanal Nawalnys Video. »Man merkt in den ersten Minuten, dass das bloß für den Psychiater taugt«, kommentierte der Moderator.
Kein Wunder also, dass Nawalnys neues Video auf großes Interesse stößt. Er erklärt die komplizierte Recherche auf schnelle und einfache Weise, illustriert sie mit Infografiken, lockert sie mit Selbstironie und Filmzitaten auf. Nawalny ist ein begnadeter Vereinfacher. Er spielt mit seiner Rolle als Opfer und Aufklärer eines Anschlags zugleich. »Weil das hier ein Krimi ist, machen Sie sich’s gemütlich. Ich habe Sie nach allen Gesetzen des Genres in einem Raum versammelt, um die Punkte zu verbinden und ein Bild des Verbrechens zu rekonstruieren.« Dazu blendet er Meisterdetektiv Hercule Poirot ein, der im Salon eines Hotels ein Mordkomplott enthüllt.
Die Show eines begnadeten Vereinfachers
Für Nawalny ist klar: Bösewicht, Motiv, Anlass, Ausführende, Mordinstrument sind nun sämtlich bekannt. Der Bösewicht ist für ihn Putin, die Ausführenden die von Bellingcat ermittelten FSB-Offiziere, das Mordinstrument das Nowitschok-Gift. Das Motiv aber sei ein anderes, als er ursprünglich vermutet habe: Nicht seine »Smart-Voting«-Kampagne, also der Versuch, die Protestwählerschaft gegen die Kremlpartei »Einiges Russland« zu organisieren, sei der Grund. Sondern seine Ankündigung im Dezember 2016, er werde für die Präsidentschaftswahl 2018 antreten. Nur so lasse sich erklären, dass die von Bellingcat identifizierte FSB-Gruppe ausgerechnet zu Beginn des Jahres 2017 begonnen habe, ihn auf Reisen zu begleiten.
Die Frage ist, ob einige Millionen YouTube-Zuschauer ein ausreichendes Gegengewicht gegen die Fernsehmacht des Kremls ist. Einer Umfrage des Lewada-Instituts vom September zufolge ist den meisten Russen zwar immerhin bekannt, dass Nawalny im August in ein rätselhaftes Koma fiel. Es glaubt aber nur eine Minderheit von ihnen, dass er absichtlich vergiftet worden sei – 33 Prozent waren dieser Ansicht, 55 Prozent glaubten das Gegenteil.
Am Donnerstag wird Präsident Wladimir Putin seinen alljährlichen mehrstündigen Fernsehauftritt haben, in dem er diesmal zugleich Fragen aus dem Volk und von Journalisten beantworten will. Dabei wird sich ein kurzes Statement zu Nawalny schlecht vermeiden lassen. Noch ist unklar, welche Abwehrstrategie der Kreml gegen die neuesten Vorwürfe wählen wird. Klar ist aber jetzt schon, dass die Vorwürfe von Moskau nicht als Resultat journalistischer Recherche, sondern als Leaks westlicher Geheimdienste gesehen oder zumindest dargestellt werden. Dabei sind Telefon-, Melde- und Passagierdaten, wie sie in der Recherche auftauchen, in Russland auf dem Schwarzmarkt käuflich. Zu dem großen Angebot hat, wie Nawalny triumphierend anmerkt, auch die Verbindung von großzügiger Datenerfassung und verbreiteter Korruption unter Putins Führung beigetragen.