Amazonas in Brasilien Warum Covid-19 für indigene Kinder so tödlich ist

Yanomami-Kinder werden medizinisch versorgt
Foto: Andressa Anholete / Getty Images
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SPIEGEL: Herr Possuelo, das Coronavirus hat inzwischen alle Gebiete der indigenen Völker in Brasilien erreicht und Zehntausende infiziert. Derzeit breitet sich eine zweite Welle aus. Besonders beunruhigend ist die Lage bei den Yanomami, die an der Grenze zu Venezuela leben. Dort sind viele junge Menschen betroffen. Zehn Kinder sind in den vergangenen Wochen an dem Virus verstorben, darunter sieben unter zwei Jahren. Wie lässt sich das erklären?
Sydney Possuelo: Indigene Menschen, Erwachsene wie Kinder, sind für alle Infektionskrankheiten wesentlich anfälliger. Aus der Geschichte wissen wir, dass Viren und andere Erreger weitaus mehr Menschen töteten, als etwa in den Kämpfen mit europäischen Einwanderern starben. Ausbrüche von Grippe, Windpocken oder Masern, alles eingeschleppte Krankheiten, trafen die Indigenen immer wieder schwer. Ihre Immunsysteme sind für von außen kommende Krankheiten nicht ausgerüstet.

Sydney Possuelo, Jahrgang 1940, leitete von 1991 bis 1993 die brasilianische Indigenenschutzbehörde Funai. Bis zu seiner Absetzung 2006 stand er der Abteilung für isolierte Indigene vor. Er gilt als einer der größten Experten für die Urvölker des Amazonasgebiets und wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Goldmedaille der »National Geographic Society« und dem vom spanischen König verliehenen Preis »Bartolomé de Las Casas«.
SPIEGEL: Die weltweite Datenlage zeigt, dass gerade Kinder unter zwei Jahren bei einer Infektion mit dem Coronavirus selten unter schweren Verläufen leiden. Wieso ist das bei den Yanomami anders?
Possuelo: Mir liegen keine Informationen zu den einzelnen Fällen vor. Klar ist allerdings, dass sich die Lebensumstände der Yanomami stark verschlechtert haben. Viele Kinder sind unterernährt oder leiden an Vorerkrankungen wie Anämie oder Durchfall. Das Überleben der Yanomami basiert auf Jagen und Fischen. Doch in ihr Gebiet dringen immer mehr illegale Goldsucher ein, die Flüsse sind verseucht und der Bestand an Tieren hat sich stark verringert. Die Regierung tut nichts dagegen. Im Gegenteil, die Genehmigungen für Goldsucher wurden gerade erst wieder ausgeweitet.
SPIEGEL: Wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung vor Ort aus?
Possuelo: Die Nachrichten, die mich erreichen, sind nicht gut. Die Yanomami haben zwar Zugang zu medizinischer Versorgung. Funai und Funasa, die staatlichen Behörden zum Schutz und zur Gesundheitsversorgung der Indigenen, organisieren das vor Ort. Doch seit Präsident Jair Bolsonaro regiert, wurde deren Budget massiv gekürzt. Zahlreiche erfahrene Mitarbeiter wurden entlassen. Die Behörden können nicht mehr effektiv arbeiten. Die Führungspositionen wurden mit Anhängern von Bolsonaro und Leuten aus dem Agrobusiness besetzt. Die Lage der Indigenen ist heute schwieriger denn je.
SPIEGEL: Indigene Aktivisten gehen so weit, dass sie von einem »Genozid« sprechen. Würden Sie das Wort auch verwenden?
Possuelo: Das Wort ist klar definiert. Bei einem Genozid handelt es sich um eine Politik, die erklärt, eine bestimmte Gruppe auslöschen zu wollen. Niemand hier sagt, dass sie die Indigenen umbringen wollen. Niemand spricht von einer »Endlösung«. Die Politik spricht davon, dass man das Land erschließen und produktiv nutzen will. Von solchen Worten lassen sich viele Menschen täuschen. Denn wenn man jemandem seinen Lebensraum wegnimmt, wenn man das Ökosystem, von dem sein Überleben abhängt, zerstört und seine Schutzbehörde gleich mit, dann handelt es sich eben doch um eine Politik der systematischen Ausrottung. Das funktioniert ja nicht nur über Krematorien oder Erschießungen, man kann ein Volk auch anders auslöschen. Und das, was hier im brasilianischen Amazonas geschieht, das kommt einem Völkermord schon recht nah und könnte am Ende dazu führen, dass man die Verantwortlichen eines Tages eines Genozids anklagen wird.

Eine Yanomami-Mutter stillt ihr Baby in Roraima
Foto: Andressa Anholete / Getty ImagesSPIEGEL: Das neue Coronavirus, befürchteten Sie zu Beginn der Pandemie, könnte zu großen Verlusten bei den Indigenen führen. Bisher sollen rund 900 Indigene daran verstorben sein.
Possuelo: Ich warte noch auf valide Daten dazu. Doch es sieht so aus, als sei die ganz große Katastrophe bisher ausgeblieben. Das liegt allerdings nicht daran, dass die zuständige Behörde sinnvolle Maßnahmen zum Schutz der Indigenen organisiert hätte. Es liegt daran, dass die Indigenen sich selbst geschützt haben. Sie haben sich extrem intelligent verhalten: Gleich zu Beginn der Pandemie kehrten sie aus den Städten in ihre Dörfer zurück und informierten ihre Stämme über das Virus. Sie wussten schon, dass es vor allem auf eine Kontaktvermeidung ankam. Die Stämme isolierten sich, blieben im Wald, in den größeren Städten wie Manaus oder Brasilia tauchten sie nicht mehr auf.
SPIEGEL: Bereits vor einem Monat wurde begonnen, die Indigenen mit Impfungen zu versorgen. Ist die Gefahr nun gebannt?
Possuelo: Die Indigenen stehen mit den Alten an zweiter Stelle, was die Priorisierung bei den Impfungen angeht, gleich nach dem medizinischen Personal. Es gab bereits Hubschrauberflüge in entlegene Gebiete, etwa an der kolumbianischen und peruanischen Grenze, um Impfstoffe zu liefern. Tatsächlich ist der Transport ein großes Problem. Manche Orte sind nur über tagelange Bootsfahrten zu erreichen, und das Klima ist extrem heiß. In der Vergangenheit gab es Probleme bei der Pockenimpfung. Die Dosen konnten nicht adäquat gekühlt werden und wurden unwirksam. Indigene infizierten sich, obwohl sie geimpft worden waren.
SPIEGEL: Mit am schlimmsten ist die Corona-Lage in der Amazonasstadt Manaus. Hier gab es bereits zwei katastrophale Wellen, und es ist eine neue, ansteckendere Mutation entstanden, die viele bereits Erkrankte erneut infiziert hat. Wie erklären Sie sich das?
Possuelo: Ich halte es für unwahrscheinlich, dass genetische oder biologische Faktoren in der Bevölkerung eine Rolle spielen. Was wir in Manaus sehen, ist das Ergebnis eines drastischen Politikversagens. Es gibt bis heute nicht genug Sauerstoff. Das zeigt, dass kein Interesse besteht, dieses Problem zu lösen. Die Verantwortlichen verhalten sich völlig gleichgültig gegenüber dem Leid.
SPIEGEL: Eine Gruppe von Biologen des Nationalen Institutes für Amazonasforschung sagen für Manaus bereits eine dritte Welle im Jahr 2021 voraus. Sie befürchten außerdem, dass impfresistente Mutanten entstehen könnten, die sich zu einem globalen Gesundheitsproblem entwickeln.
Possuelo: Leider sind Mutanten normal, wenn sich das Virus in einer Bevölkerung derart ausbreitet. In Manaus gibt es keine echte Bekämpfung, noch nicht mal einen Lockdown. Die Gefahr, dass gefährlichere Stämme entstehen, ist also hoch. Ich hoffe sehr, dass das nicht passiert. Was hier in Brasilien geschieht, wünsche ich keinem anderen Land auf der Welt, weder in politischer noch in gesundheitlicher Hinsicht.
SPIEGEL: Nun wurde wegen des Falls Manaus eine polizeiliche Untersuchung gegen den Gesundheitsminister eingeleitet. Was erwarten Sie davon?
Possuelo: Absolut gar nichts. Er ist ein Anhänger Bolsonaros.

Der brasilianische Forscher Sydney Possuelo auf einer Expedition im Amazonas 2002
Foto: Scott Wallace / Getty ImagesSPIEGEL: Im Amazonas leben auch indigene Stämme, die bisher gar keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Sind sie durch das Virus gefährdet?
Possuelo: Wir wissen so gut wie nichts über diese Menschen. Wir kennen weder ihre Sprache noch ihre Anzahl. Wenn das Virus sie erreicht, wäre dies ein absolutes Desaster. Diese Menschen leben nackt im Wald und jagen mit Pfeil und Bogen. Sie haben keinerlei Antikörper und noch nie in ihrem Leben ein Antibiotikum oder andere Medikamente genommen. Was sie schützt, ist ihre Isolation. Im vergangenen August erst wurde ein Kollege von mir von einem Stamm getötet, ein Aktivist. Er war nur einer von vielen. Die Stämme vermeiden jeden Kontakt mit uns. Dennoch ist es denkbar, dass sie sich über kontaminierte Gegenstände oder eine Begegnung mit einem anderen Stamm infizieren. Wir würden es allerdings sehr wahrscheinlich nie erfahren.
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