Amnesty-Menschenrechtsbericht "Wir erleben eine Katastrophe"
SPIEGEL ONLINE: Das vergangene Jahr stand ganz im Zeichen der globalen Rezession. Das zeigt sich auch in Ihrem Jahresbericht. Welche Auswirkungen hat die Krise auf die Lage der Menschenrechte?
Khan: Wir erleben eine Katastrophe. Nach mehreren Jahren des Rückgangs steigt die Zahl der Menschen in Armut wieder. Es gab soziale Unruhen in Afrika und China - und als Reaktion sehr harsche Repression von Regierungen, die zum Tod vieler Demonstranten geführt hat. Mehrere Regierungen, darunter Simbabwe und Nordkorea, haben auch die Nahrungsmittelknappheit dazu genutzt, Nahrungsmittel als politische Waffe einzusetzen.
SPIEGEL ONLINE: Hätte das verhindert werden können?
Khan: Die führenden Regierungen der Welt sind durch die Rezession abgelenkt. Humanitäre Krisen, wie die in Darfur oder Palästina, erfahren nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten. Die Ärmsten sind am stärksten von der Weltwirtschaftskrise betroffen, aber alle Gedanken und Investments sind auf die Rettung der westlichen Volkswirtschaften und des Bankensystems gerichtet. Menschenrechte rangieren nur noch unter ferner liefen.
SPIEGEL ONLINE: Überrascht es Sie, dass westliche Politiker zunächst an ihr eigenes Land denken?
Khan: Der Westen geht ein hohes Risiko ein: Wenn die globale Rezession nicht gut gemanagt wird und nicht mehr Geld in die ärmeren Länder fließt, werden Milliarden Menschen in der ganzen Welt leiden.
SPIEGEL ONLINE: Die Rezession hat die Entstehung eines neuen globalen Forums beschleunigt: Die G20 sollen die Welt aus der Krise führen. Der Amnesty-Jahresbericht zeigt, dass die Menschenrechtsbilanz der G20 wegen Staaten wie China und Saudi-Arabien erheblich schlechter ist als bei den G8. Die G20 sind für rund 80 Prozent der Folter und Hinrichtungen in der Welt verantwortlich. War es eine gute Idee, die G8 zu erweitern?
Khan: Die Erweiterung war richtig, weil die G20 die politische und wirtschaftliche Realität der Welt spiegeln. Aber diese neue Gruppe wird nicht sehr effektiv sein, wenn sie keine gemeinsame Menschenrechtsvision entwickelt. Wir wollen die beiden führenden Nationen der Welt, die USA und China, dazu bringen, eine gemeinsame Basis zu finden: Die USA sollen die Uno-Konvention für wirtschaftliche und soziale Rechte unterschreiben und China die Uno-Konvention für politische und Bürgerrechte.
SPIEGEL ONLINE: Ein paar Unterschriften führen noch nicht zu einer gemeinsamen Vision der Menschenrechte. Haben Sie mit der alten G8 nicht einen wichtigen Alliierten verloren? Schließlich warben die G-8-Resolutionen bei aller Unvollkommenheit stets für universale Werte, die Werte von Amnesty International. Das ist nun vorbei.
Khan: Die Frage ist, ob die Regierungen der G20 sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen müssen. Wir kämpfen dafür, alle Teilnehmer auf den universalen Wertekanon der Menschenrechte zu verpflichten, und es gibt einige ermutigende Signale. China hat den ersten Nationalen Aktionsplan für Menschenrechte beschlossen, und die Vereinigung der asiatischen Staaten (Asean) hat ein explizites Bekenntnis zu den Menschenrechten in ihre Charta aufgenommen.
SPIEGEL ONLINE: Der chinesische Aktionsplan vom April verspricht unter anderem, die Todesstrafe zu kontrollieren und Journalisten und Blogger frei arbeiten zu lassen. Wie glaubwürdig ist das?
Khan: Zwischen Rhetorik und Realität klafft eine große Lücke. Versprechen reichen nicht aus, wir erwarten Taten. Vor den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr hat China eine gewisse Öffnung zugelassen. Sie haben einige Websites freigeschaltet, darunter auch die Amnesty-Homepage, aber die ist inzwischen wieder blockiert. Die chinesische Regierung hat auch das Berufungsrecht gegen die Todesstrafe eingeführt, aber sie bleibt mit Abstand der größte Henker der Welt.
SPIEGEL ONLINE: Laut dem neuen Amnesty-Bericht hat China im vergangenen Jahr mindestens 1700 Menschen hingerichtet, gefolgt von Iran mit mindestens 346 Hinrichtungen.
Khan: Die wirklichen Zahlen sind noch viel höher. Wir summieren nur die Fälle, die wir aus den Nachrichten und sonstigen Quellen im Land haben. Es gibt in China und Iran keine offiziellen Regierungsstatistiken zu den Hinrichtungen, und wir haben in beiden Ländern keine Zugangserlaubnis.
SPIEGEL ONLINE: In den vergangenen Jahren hat der Krieg gegen den Terror stets eine wichtige Rolle in Amnesty-Berichten gespielt. Das Thema scheint nun an Bedeutung verloren zu haben. Westliche Regierungen, die mit Folter oder geheimen Festnahmen in Verbindung gebracht werden, sind in der Defensive, Transparenz ist das neue Modewort. Fühlen Sie sich bestätigt?
Khan: Es gibt einen sehr klaren Politikwechsel rund um die Welt. Wir sind sehr ermutigt durch die wiederholten Versprechen des neuen US-Präsidenten Barack Obama, Guantanamo und andere Gefangenenlager zu schließen und jegliche Folter zu untersagen. Die USA haben den Krieg gegen den Terror angeführt, deshalb führt ihre Kehrtwende zu einem globalen Stimmungswandel. Was immer noch fehlt, ist die Aufarbeitung. Es gibt eine unvollendete Geschichte der Verantwortung sowohl in den USA als auch in Europa. Wir werden nicht ruhen, bis die ganze Wahrheit über geheime Festnahmen und Folter bekannt ist.
SPIEGEL ONLINE: Vergangene Woche hat Obama angekündigt, Guantanamo zu schließen. Aber er hat sich nicht grundsätzlich gegen Präventivhaft ausgesprochen. Einige Gefangene aus Guantanamo werden vielleicht auch weiterhin ohne Gerichtsverfahren in Haft bleiben - nur nicht mehr auf Kuba, sondern auf amerikanischem Boden.
Khan: Das ist sehr besorgniserregend. Obama ist auffällig zweideutig an diesem Punkt und deutet mögliche neue Gesetze an. Haft ohne Gerichtsurteil kann aber niemals rechtmäßig sein. Wir fordern die US-Regierung auf, alle unschuldigen Gefangenen aus Guantanamo freizulassen und den Rest vor ein US-Gericht zu stellen. Die Regierung sollte etwas mehr Vertrauen in ihr Rechtssystem haben.
SPIEGEL ONLINE: Laut Pentagon werden bis zu 14 Prozent der entlassenen Guantanamo-Häftlinge rückfällig und engagieren sich in Terroraktivitäten. Kann die Obama-Regierung es sich leisten, Gefangene zu entlassen, die nicht eines Verbrechens überführt werden konnten, die aber als zu gefährlich eingestuft werden, um frei herumzulaufen?
Khan: Ein Rechtsstaat muss dieses Risiko eingehen. Nur ein Gericht, keine Regierung, darf feststellen, ob eine Person gefährlich ist oder nicht. Wenn jemand nicht für schuldig befunden werden kann, sollte er frei sein.