Analyse Der Dschihadismus wird unberechenbarer
Berlin - Es ist nicht das erste Mal, dass islamistische Terroristen Attentate auf wichtige Personen des öffentlichen Lebens versuchten: In den vergangenen Jahren gab es zwei von al-Qaida inspirierte Anschläge auf den pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf, 2004 wurde der niederländische Filmemacher Theo Van Gogh in den Niederlanden ermordet, in Deutschland versuchte im vergangenen Jahr ein pakistanischer Student wegen der Mohammed-Karikaturen den Chefredakteur der "Welt" anzugreifen.
Auch gibt es zahlreiche Strategiepapiere aus dem Umfeld von al-Qaida und verwandten Organisationen, die von der Bedeutung von Attentaten sprechen. Beispielsweise verfasste der Chef der saudi-arabischen Filiale, Abd al-Aziz al-Mukrin, 2003 einen Aufsatz über politische Morde. Attentate haben darüber hinaus eine besondere Attraktivität für islamistische Terroristen: Weil dabei keine Zivilisten, sondern im Idealfall nur die als Feind identifizierte Zielperson ums Leben kommt, sind sie islamrechtlich leicht zu legitimieren.
Angesichts des verhinderten Plots in Großbritannien, dessen Details noch gar nicht bekannt sind, von einer Strategieänderung al-Qaidas zu sprechen, ist verfehlt. In den mehr als fünf Jahren, die seit dem 11. September 2001 vergangen sind, hat sich das Terrornetzwerk von Osama Bin Laden grundlegend gewandelt. Aufträge für konkrete Anschläge werden von der Führungsspitze gar nicht mehr erteilt, Bin Laden und sein Stellvertreter Aiman al-Sawahiri machen nur noch grundsätzliche strategische Vorgaben. Es bleibt den Zellen vor Ort überlassen, wie und auf welcher Skala sie das umsetzen wollen.
Auch die Natur der Zellen hat sich gewandelt. Denn diese bestehen heute immer häufiger aus Personen, die niemals in einem Qaida-Camp waren und oftmals auch keine persönlichen Beziehungen zur ersten Generation islamistischer Dschihadisten haben. Es handelt sich vielmehr um selbstrekrutierte Mudschahidin, die auf niemandes Befehl hin agieren, sondern sich selbst kommandieren. In anderen Zellen freilich spielen Afghanistanveteranen dagegen eine große Rolle - sie tendieren zu größer angelegten Anschlagsszenarien.
Diese parallelen Entwicklungen haben längst dazu geführt, dass es eine einheitliche Terrorstrategie der al-Qaida nicht mehr gibt. Verschiedene Schulen und unterschiedliche Attentätertypen bestehen nebeneinander. Als im vergangenen Sommer, ebenfalls in Großbritannien, ein Anschlagsplot aufgedeckt wurde, der die Explosion mehrere Verkehrsflugzeuge vorsah, war die Überraschung der Experten groß, weil solche Monsteranschläge aus dem Denken der Terroristen verschwunden schienen. Jetzt sind dieselben Experten überrascht, weil eine Terrorzelle anscheinend "nur" ein Attentat plante - und keinen Großanschlag mit vielen Toten. Dabei ist beides nur ein Beleg dafür, wie diffus und unberechenbar die "neue al-Qaida" geworden ist.