Analyse Frankreich brennt - Behörden reagieren hilflos
Paris - Hinter den Ankündigungen von "Strenge und Gerechtigkeit", von entschiedenem Durchgreifen und dem Durchsetzen der republikanischen Ordnung in den elenden Trabantenstädten vor den Toren der Hauptstadt Paris verbirgt sich politische Ratlosigkeit. Denn all die Festnahmen haben nicht verhindert, dass in der Nacht zum Sonntag landesweit mehr Autos abgefackelt wurden denn je, fast 1300 zählte die jüngste Bilanz.

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Und die Krawalle rücken näher an die Wohnstuben des bürgerlichen Frankreich. Nicht nur die "Banlieue", desolate Wohnsiedlungen arbeitsloser Einwanderer-Kinder, auch die Hauptstadt selbst und zahlreiche Provinzstädte sind inzwischen betroffen. Jugendliche ohne Hoffnung, die von sich selbst sagen, sie hätten "nichts zu verlieren", toben ihre Wut an Autos, Bussen oder Lagerhallen aus, ja oftmals auch an Jugendzentren, Turnhallen oder Schulen, die ursprünglich zu ihrem Nutzen gebaut worden waren.
Dieser unbändigen Wut haben die Behörden nicht viel entgegenzusetzen. Die beiden großen Akteure der Regierung, Premierminister Dominique de Villepin und Innenminister Nicolas Sarkozy, spielen nach anfänglichen Scharmützeln wieder gemeinsam ihre Rolle, ein wenig nach dem Motto amerikanischer Krimis: "guter Polizist, böser Polizist". Sarkozy gibt weiterhin den Rammbock, den Mann, der dem Volk aus der Seele spricht und keine Kompromisse duldet. Er besucht Polizeiwachen in den sogenannten "sensiblen" Zonen, lobt die langen Listen der Festnahmen und kündigt an "wir werden Ordnung in diesen vernachlässigten Gebieten schaffen".
Villepin, der wie Sarkozy den Blick vorrangig auf die Präsidentschaftswahlen 2007 gerichtet hat, empfängt derweil Bürgermeister, Jugendliche und Polizisten in seinem Amtssitz. Bis Ende November hat Villepin einen "großen Aktionsplan" für die Vorstädte versprochen - eine Ankündigung, die ohne jeden Effekt verpuffte.
Denn Pläne und Projekte hat es seit 1990 immer wieder gegeben, sie haben alle nichts gefruchtet. Wenn sich die Lage in den Vorstädten geändert hat, dann zum Schlechteren, da sind sich fast alle Betroffenen einig. In den sechziger Jahren für Gastarbeiter gebaut, sind diese Sozialbausiedlungen inzwischen das Zuhause der folgenden Einwanderer-Generationen, die anders als ihre mittlerweile integrierten Vorgänger keine Chance finden, in Frankreichs Gesellschaft aufgenommen zu werden.
Bankrott der Integrationspolitik
Der "größte Fehler" der Integrationspolitik war nach Auffassung des Sprachsoziologen Alain Bentolila, "dass man meinte, Gleiches müsse mit Gleichem zusammengepfercht werden". So entstanden Ghettos, in denen Arme, Arbeitslose und Ausgeschlossene ein trübes Dasein fristen. "Diese Menschen fühlen sich zutiefst ungerecht behandelt, verachtet und verstoßen", sagt der Soziologe Michel Wierviorka. "Diese Krise wird nicht durch einen x-ten Aktionsplan geregelt werden können."
Viele Einwohner der Vorstädte haben längst begriffen, dass Hilfe nicht von außen kommen wird. Sie versuchen aus eigener Kraft, die Lage der jungen Menschen zu verbessern. Als "große Brüder" bezeichnen sich nicht mehr ganz junge Banlieue-Bewohner, die es durch Tüchtigkeit oder Glück geschafft haben, aus dem Teufelskreis von Armut und Kriminalität auszubrechen. Manche sind Sozialarbeiter oder Lehrer, andere sogar Unternehmer, und sie sind seit dem Beginn der Krawalle Nacht für Nacht unterwegs, um die Jungen Leute zur Vernunft zu rufen. Selbst die Eltern der beiden Jungen, die am 26. Oktober bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei in einem Transformatorenhäuschen durch Stromschläge ums Leben kamen, und deren Tod die Unruhen auslöste, riefen zur Besonnenheit auf. In manchen Vorstädten haben die Einwohner Schweigemärsche und Protestzüge organisiert, um gegen den Vandalismus zu demonstrieren.
Auf die Polizei als "Freund und Helfer" wollen sich die wenigsten Menschen der betroffenen Viertel verlassen. Im am schlimmsten betroffenen Département Seine-Saint-Denis schießen "Bürgerwehren" wie Pilze aus dem Boden. In Drancy sagte sogar Bürgermeister Jean-Christophe Lagarde selbst, "die Leute müssen sich selbst verteidigen". Und so organisieren die Einwohner nächtliche Patrouillen mit Funkgeräten, um Brandattacken zu verhindern oder gelegte Feuer möglichst schnell zu löschen. "Ich verstehe nicht, warum sie die Öffentlichkeit angreifen, wenn sie mit der Politik unzufrieden sind, sollen sie doch die Politiker attackieren", sagt der Rathausangestellte Stéphane, der in Sevran in Seine-Saint-Denis nächtens mit seinem Kollegen Bruno Streife fährt.
"Wir machen weiter"
Doch gerade von den Politikern fühlen sich die jungen Menschen ignoriert und missachtet. Dass Innenminister Sarkozy die Viertel mit dem "Hochdruckreiniger" säubern wollte, hat aus dem ehrgeizigen Populisten die Hassfigur Nummer eins der jungen Leute gemacht. "Wir machen so lange weiter, bis Sarko zurückgetreten ist", werden immer wieder anonyme Randalierer zitiert. Der Minister scheint auf diese Rolle fast schon stolz zu sein. "Mein Name wird von den Banden ausgebuht, die die Vororte terrorisieren? Na, dann ist ja alles in Ordnung, wäre ja auch verdächtig, wenn sie mich in den Himmel loben würden", tönte Sarkozy in einer Tageszeitung.
Angesichts von Bürgerwehren und einem Sachschaden, der von den Versicherungen bis Sonntag mit sieben Millionen Euro beziffert wurde, kann die Regierung sich weitere Brandnächte kaum noch leisten. Der politische Schaden ist noch höher, denn im Lande macht sich Unsicherheit breit - die Franzosen fragen sich, ob das noch ihr Frankreich ist.
Schon werden auch im rechten Lager Stimmen laut, die einen Einwanderungsstopp fordern, der allein das Problem beseitigen könnte. Doch ein härteres Durchgreifen ist den Verantwortlichen überhaupt nicht geheuer. Hochrangige Polizeiquellen geben zu, dass die Sicherheitskräfte sich in vielen Situationen zurückhalten oder gar zurückziehen, da sie ein erstes Todesopfer - sowohl auf Seiten der Polizei als auch auf Seiten der Randalierer - um jeden Preis verhindern wollen. Es scheint zweifelhaft, ob diese Taktik dauerhaft durchgezogen werden kann. In Sevran wurde schon am Donnerstagabend eine behinderte Frau in einem Bus fast verbrannt, in Stains in Seine-Saint-Denis liegt seit Samstagnachmittag ein 61-jähriger Mann im Koma, der von einem Jugendlichen niedergeschlagen worden war.
Chirac schweigt - Sarkozy verliert
"In der Klemme" titelte die Tageszeitung "Le Parisien" am Sonntag und meinte damit Innenminister Sarkozy, dessen Ausdrucksweise von den Franzosen immer weniger geschätzt wird. Doch in der Klemme steckt die gesamte Regierung, und das nicht nur wegen der Krawalle. Seit Jahren äußern die Franzosen bei Wahlen und Abstimmungen ihren Unmut über ihre Regierung, reiht sich Protestbewegung an Protestbewegung, stehen Streiks auf der Tagesordnung. Doch einen Politikwechsel hat es nie gegeben, stattdessen werden Regierungschefs ausgetauscht. So setzte Präsident Jacques Chirac nach der Ablehnung der europäischen Verfassung bei der Volksabstimmung im Mai an die Stelle des ihm treu ergebenen Regierungschefs Jean-Pierre Raffarin den ihm treu ergebenen Villepin.
Da mag es auch nicht verwundern, dass Chirac seit Beginn der Krawalle schweigt. Ein kurzer Aufruf zur "Beruhigung der Gemüter" am Mittwoch - und seither ist Sendepause. Der Staatschef werde sich äußern, wenn er es für richtig halte, hieß es in seiner Umgebung. Chirac weiß, dass ein Auftritt keinen Sinn hat, solange er keinen Ausweg aus der Krise vorschlagen kann. Und den hat bisher auch nach zehn Brandnächten noch niemand gefunden.