Analyse Frankreich in der Sackgasse
In seiner Haut möchte heute keiner stecken: Frankreichs Premier Dominique de Villepin hat es geschafft, fast ganz Frankreich gegen sich und seine Arbeitsmarktreform aufzubringen. 1,5 Millionen Menschen protestierten den Veranstaltern zufolge am Samstag gegen den "Erstanstellungsvertrag", der den Kündigungsschutz für junge Menschen unter 26 Jahren für ihre ersten zwei Berufsjahre völlig aufhebt.
Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt marschierten verfeindete Gewerkschaften miteinander, Alt und Jung demonstrierten gemeinsam. Schon ist die Rede von einem Generalstreik, sollte die Regierung auf ihrer Reform bestehen. Doch Villepin will nicht zurückstecken: Er betrachte die Reform als sein "Austerlitz", hieß es in seiner Umgebung mit Anspielung auf Napoleons Überraschungssieg gegen Russen und Österreicher vor 200 Jahren. Doch der mit Geschichtskenntnis unterfütterte Ehrgeiz des Regierungschefs ist Teil seines Problems: Die Franzosen sind nicht nur gegen seinen "Erstanstellungsvertrag", sie haben auch genug von einem Villepin, den sie als arrogant, abgehoben und am Dialog nicht interessiert wahrnehmen. Nicht einmal ein Jahr nach Villepins Amtsantritt, der Frankreich neuen Schwung und neuen Optimismus verleihen sollte, steckt das Land in der Sackgasse. Villepin, so kritisieren die Beobachter fast einhellig, hat die Reformen vor die Wand gefahren und die Reformgegner im Land unfreiwillig gestärkt.
Das zeigte sich bei den Demonstrationen am Samstag an einem seltenen Bild, das Fernsehsender und Zeitungen genüsslich wiedergaben: Die sonst so zerstrittenen Chefs der diversen Gewerkschaften marschierten einträchtig mit demselben Transparent. Und in ihren Stellungnahmen gingen sie nicht auf den Inhalt von Villepins Reform ein, sondern auf seine Weigerung, seinen Gesetzentwurf mit anderen zu diskutieren. "Er sagt, er hört auf die Franzosen, aber er versteht nichts", sagte der Chef der kommunistischen CGT, Bernard Thibault. "Zu einem Dialog gehören zwei", meinte auch FO-Vorsitzender Jean-Claude Mailly. Und dieser Vorwurf kommt mittlerweile nicht nur vom linken politischen Spektrum. Auch ein Berater des konservativen Innenministers Nicolas Sarkozy, Villepins Rivale im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur im kommenden Jahr, kritisiert die Handhabung der Krise durch den Premier: Villepin habe geglaubt, mit einem kurzen Fernsehauftritt vor einer Woche könne er das Problem regeln. "Aber das Fernsehen ist kein Instrument zur Krisenbewältigung", so Sarkozy-Berater Thierry Saussez. "Dafür muss man schon vor Ort mit den Leuten reden."
Gesetz ohne Konsultation der Fachminister
Auch die Art, wie das Gesetz zur Erstanstellung beschlossen wurde, brachte die Franzosen gegen Villepin auf. Denn das Parlament, das dank der von Charles de Gaulle erdachten Verfassung ohnehin im Gesetzgebungsprozess wenig Gewicht hat, konnte durch die Anwendung eines Schnellverfahrens nicht einmal debattieren. Dabei verfügt Villepins Regierung dort über eine erdrückende Mehrheit. "Er hat noch nicht einmal die betroffenen Minister in seinem Kabinett konsultiert", wundert sich auch der konservative Journalist und Buchautor Franz-Olivier Giesbert. Villepin habe damit der Sache der Reformen nachhaltig geschadet, bewertete die linksliberale "Le Monde" am Sonntag. Ein "schlechter Entwurf, schlecht erklärt und mit dem Gummiknüppel durchgesetzt" könne die Franzosen wohl kaum von der Notwendigkeit der Reformen überzeugen. Dabei hätte ein Gespräch mit den Gewerkschaften vor der Verabschiedung der Reform möglicherweise den Schwarzen Peter geschickt auf die andere Seite gespielt. Denn auf die Frage, was die kommunistische CGT denn zu dem Projekt gesagt hätte, wäre sie von Villepin dazu befragt wurden, antwortete deren Chef Thibault am Sonntagmorgen im Radio ganz klar: "Wir sagen Nein zu jeglicher Änderung des Arbeitsrechtes."
Und genau diese Gewerkschafter, "die Vertreter des Beamtentums und der Anstellung auf Lebenszeit, die jegliche Entwicklung im Namen eines Pseudowiderstandes gegen den Ultraliberalismus blockieren", so "Le Monde", marschieren jetzt Seite an Seite mit der Bevölkerungsgruppe, die auf Reformen angewiesen ist, um ihren Weg in die Arbeitswelt zu finden: die jungen Menschen. Außer ihrer Wut auf Villepin und ihre Forderung nach der Rücknahme des "Erstanstellungsvertrags" eint diese Gruppen nichts. Und andere Reformvorschläge, die diesen Namen verdienten, gibt es auch nicht. Das zeigte sich am Samstagabend, als Oppositionschef François Hollande im Fernsehen zwar ebenfalls die Rücknahme des Gesetzes verlangte, aber keinerlei Ersatz anbot. Sein einziger Vorschlag war die kostspielige Idee, Unternehmer zu subventionieren, die junge Leute einstellen. Und so macht sich ein Gefühl der Ausweglosigkeit breit: "Kann man denn in Frankreich keine Reformen durchsetzen?", fragte TF1-Nachrichtenmoderatorin Claire Chazal in ihrem Gespräch mit Hollande.
Die Reformpolitik wird auf der Strecke bleiben
Tatsächlich haben Volksaufstände gegen unliebsame Reformen bei unseren westlichen Nachbarn Tradition. Schon 1994 hatte der damalige Premier Edouard Balladur versucht, das Arbeitsrecht für junge Menschen zu lockern. Nach Streiks und Protestmärschen nahm er das Projekt zurück. 1995 sollte das all zu großzügige Rentensystem der Staatsbahn SNCF reformiert werden - und es war Präsident Jacques Chirac höchstpersönlich, der angesichts der wütenden Aufschreie klein beigab. Was die Landwirtschaftspolitik anlangt, so wagt ohnehin kein Politiker, die empfindlichen Bauern zu provozieren - und so steht Frankreich in Europa als Bremser bei den Agrarsubventionen da, die die gesamte EU teuer zu stehen kommen. Der Einzige, der bislang trotz massiver Proteste, Streiks und Demonstrationen eine Reform durchzog, war der im vergangenen Sommer entlassene Jean-Pierre Raffarin. Im Frühjahr 2003 hielt er dem Volkszorn stand und darf damit als einziger Regierungschef gelten, der in den vergangenen Jahrzehnten in Frankreich eine echte Reform durchgesetzt hat.
Dem will Villepin es jetzt gleichtun. Schon spekulieren Kommentatoren, er müsse nur bis zu den Anfang April beginnenden Osterferien durchhalten, dann würde die Protestbewegung schon in sich zusammenfallen. Ein wenig ruhmreicher Sieg für einen aristokratischen Politiker, der Geschichte machen wollte. Eine Wahl hat er allerdings kaum: Gibt er nach, schreibt er sich eine saftige Niederlage ins Stammbuch, die seine Chancen als Präsidentschaftskandidat der Rechten so gut wie vernichtet.
Setzt er seinen Erstanstellungsvertrag durch, dann wird er für die kommenden 13 Monate bis zur Wahl sicher die Finger von weiteren Projekten lassen. Und der Erstanstellungsvertrag wird selbst von Reformbefürwortern nicht als großer Wurf zur Belebung des Arbeitsmarktes betrachtet: Er würde im Grunde nur die gegenwärtige Situation fortsetzen, in der die Arbeitswelt in zwei Gruppen aufgeteilt ist: Die einen sind "drinnen", die anderen "draußen". Drinnen sind diejenigen mit unbefristeten Verträgen, Kündigungsschutz, Sozialleistungen und Rentenanspruch. Draußen sind alle anderen, die Unqualifizierten, die Arbeitslosen, die Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen. Erst wenn diese sozialen Gruppen "auf die gleiche Ebene gestellt werden und die gleiche Form von Vertrag bekommen", könne von einer Reform die Rede sein, so "Le Monde". Das heißt, dass es in der gegenwärtigen Konfrontation keine Sieger geben kann, dafür aber viele Verlierer. Ob Villepin sich durchsetzt oder fällt: Eine konsequente Reformpolitik wird auf der Strecke bleiben.