Merkels "europäische Lösung" Die EU schottet sich ab

Grenzschützer an der deutsch-österreichischen Grenze (Archivbild)
Foto: REUTERSFilippo Grandi ist ein besonnener Mann. Wenn der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zur Feder greift, muss also Gravierendes auf dem Spiel stehen. "Im Zentrum eines funktionierenden gemeinsamen Asylsystems und um das Recht auf Asyl zu bewahren, ist ein verlässlicher Solidaritätsmechanismus nötig", schreibt der Uno-Mann an den bulgarischen Regierungschef Bojko Borissow (Bulgarien hat bis Ende Juni die rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne). Grandi fordert die EU auf, diejenigen ihrer Mitglieder zu entlasten, "deren Kapazitäten unter besonderen Druck geraten".
Man kann Grandis Schreiben vom 18. Juni, das dem SPIEGEL vorliegt, als letzte Mahnung an Europa lesen, sich von einer humanitären, solidarischen Flüchtlingspolitik nicht zu verabschieden. Denn genau danach sieht es derzeit aus. Unter dem Druck der CSU muss nun auch Angela Merkel rasch neue Lösungen für eine bessere Abschottung Europas finden, Sonntagnachmittag beim EU-Minigipfel in Brüssel geht es los. Mit dem Rechtsruck innerhalb der deutschen Regierung kippt die Flüchtlingsdebatte in Europa endgültig zugunsten der Hardliner.
Das Seehofer-Virus
Beispiele aus den letzten Stunden gefällig? Spanien und Frankreich kündigen an, dass sie Flüchtlinge in geschlossenen Lagern unterbringen wollen. Und Österreich drängt darauf, Militär an den EU-Außengrenzen einzusetzen. Der Seehofer-Virus hat die ganze EU befallen. Gut möglich, dass am Ende die Flüchtlinge den Preis dafür bezahlen, dass Merkel noch ein paar Monate in ihrem wackeligen Bündnis mit der CSU weitermachen darf.
Geht es nach Merkel, soll der Minigipfel (etwa 16 der 28 EU-Mitglieder nehmen teil) das Tor für Rückführungen vor allem nach Italien öffnen. Die Absicht schimmert hinter der Abschlusserklärung für den Treff durch, deren Entwurf vor ein paar Tagen in der EU-Hauptstadt zirkulierte. "Wir werden einen flexiblen gemeinsamen Rücknahmemechanismus nahe an den Binnengrenzen einrichten", heißt es darin. Was genau das sein soll, könnte einem in Brüssel zwar niemand so genau sagen, das Ganze klingt aber immerhin ein bisschen nach Horst Seehofers Forderungen. Ein deutsches Anliegen soll in ein europäisches Mäntelchen gekleidet werden, darum geht's.
Das Ganze war so leicht zu durchschauen, dass das Abschlusspapier nach Protesten vor allem Italiens erstmal im Schredder landete. Merkels Ziel bleibt dennoch, mit dem Segen der EU den Weg für solche bi- oder trilateralen Abkommen zu ebnen, dann halt ohne Papier.
Unter Druck der CSU holt Merkel in Brüssel nach, was sie in der Heimat - jenseits aller Rhetorik - längst vollzogen hat: den Abschied von der Willkommenskultur vom Herbst 2015. Als Beleg dafür kann auch der Entwurf des Kommuniqués für den richtigen EU-Gipfel am 28. und 29. Juni gelten. Der "echte EU-Gipfel" ist nach dem Minigipfel am Sonntag der zweite, entscheidende Baustein des europäischen Teils der Operation Kanzlerinnen-Rettung. Danach läuft die Zwei-Wochen-Frist der CSU ab.
Das Papier, das die Staats- und Regierungschefs verabschieden wollen, liest sich, als hätte Viktor Orban den Stift geführt. Darin ist beispielsweise erstmals von sogenannten Ausschiffungszentren die Rede, wohl in Nordafrika.
Den Anreiz zur Flucht senken
Die Idee ist seit jeher umstritten und alles andere als neu. Neu ist, dass sich die Staats- und Regierungschefs der EU nun öffentlich dahinter versammeln wollen. Das Konzept sieht vor, Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen wurden, nicht mehr nach Italien oder Malta zu bringen, sondern zurück in diese Zentren. Das dürfte, so die Überlegung, dann auch den Anreiz für Migranten senken, sich auf die gefährliche Reise übers Mittelmeer zu machen.
Eine echte "europäische Lösung", wie Merkel sie nach eigenen Worten angeblich anstrebt, rückt derweil in weite Ferne. Schuld an dieser Entwicklung ist nicht zuletzt auch sie selbst. Die EU-Kommission hat bereits 2015 ein ganzes Paket von insgesamt sieben Gesetzesvorschlägen auf den Weg gebracht, mit denen ein gemeinsames, effizienteres Asylsystem geschaffen werden könnte. Es geht darin etwa um einheitlichere Aufnahmebedingungen und schnellere Verfahren, eine europäische Asylagentur, alles sinnvolle Dinge.
Umgesetzt ist aus dem Paket allerdings bis heute wenig, da nicht zuletzt die Deutschen sich an einem, zugegeben wichtigen, Punkt verhakten. Berlin beharrt seit gut zweieinhalb Jahren stur darauf, dass die Europäer sich für den Fall der nächsten Flüchtlingskrise auf eine verpflichtende Umverteilungsquote verständigen sollten. Genauso lange sagen die Osteuropäer, allen voran Ungarn: nein. Die Folge: alles ist blockiert.
Österreichs neue Härte
Nun schrumpfen Merkels Gestaltungsmöglichkeiten zur Wiederbelebung der Dublin-Reform endgültig auf null. Am 1. Juli übernimmt Österreich die rotierende EU-Ratspräsidentschaft. Und Kanzler Sebastian Kurz, der ohnehin so wirkt als würde er mit Jens Spahn und Alexander Dobrindt auf Merkels Sturz hinarbeiten, will lieber die EU-Außengrenzen sichern. Bei einem Treffen mit Jean-Claude Juncker brachten Kurz und seine Bündnispartner von der rechtsnationalen FPÖ dem Kommissionschef unlängst schon mal nahe, was in Sachen Flüchtlingspolitik von Österreich zu erwarten sei: neue Härte. Es soll laut geworden sein.
Wenn für Länder wie Italien aber nun keine Entlastung winkt, warum sollen sie dann Merkel den Gefallen tun, auch noch Flüchtlinge aus Deutschland zurückzunehmen? Innenminister Matteo Salvini von der fremdenfeindlichen Lega Nord ließ in den vergangenen Tagen keine Gelegenheit aus, um klar zu machen, dass er gar nicht daran denke, Merkels Flüchtlingsproblem mit der CSU zu lösen.
Deutschlands Hoffnungen ruhen daher, wie so oft, auf dem Geldbeutel. Als denkbar gilt beispielsweise, dass Deutschland mehr Geld in einen EU-Topf für Libyen zahlt, ein Anliegen, das die Italiener in Brüssel immer wieder vorgebracht haben.
Willkommen auf dem Brüsseler Flüchtlingsbasar im Juni 2018.