Angriff auf Regierungsviertel Taliban-Attacke in Kabul gefährdet Sicherheitskonzept
Kabul - Menschen versteckten sich in ihren Häusern, westliche Diplomaten wurden hektisch in die Bunker gebracht: Mindestens zehn Explosionen, vermutlich von Panzerfäusten, ließen Kabul am Dienstag erzittern. In der afghanischen Hauptstadt folgten stundenlange Gefechte zwischen der kleinen Taliban-Truppe und lokalen Sicherheitskräften.
Der Krieg war damit knapp zehn Jahre nach der Invasion 2001 durch den Westen zurück in Kabul. "Amerika hat gerade der Anschläge vom 11. September gedacht", schrieb ein Afghane per Twitter vom Ort des Geschehens, "hier in Kabul haben wir immer noch fast jeden Tag unser 9/11".
Der Angriff der Taliban wird erneut eine Diskussion auslösen, wie realistisch die von der Nato bereits begonnene Übergabe der Sicherheitsverantwortung in Kabul an die afghanische Arme ist. Bis zum Jahr 2014 sollen bis auf einige wenige Unterstützungseinheiten alle internationalen Soldaten komplett abgezogen sein. Doch die Attacke der Aufständischen zeigte, dass die Afghanen mit ihrer Aufgabe derzeit noch massiv überfordert sind.
Die Attacke mitten im Regierungsviertel begann gegen 14 Uhr Ortszeit. Das Gebiet ist durch einen sogenannten Ring of Steel von Dutzenden Kontrollpunkten und Straßensperren der afghanischen Armee und der Polizei geschützt. Hier liegen die meisten der internationalen Botschaften wie das riesige Areal der US-Vertretung, viele Regierungsgebäude der afghanischen Administration und das einer Festung gleichende Hauptquartier der internationalen Schutztruppe Isaf. Es ist das Herz von Kabul und gilt als eine der wenigen sicheren Zonen in dem von Anschlägen und Kämpfen gebeutelten Land. Spätestens seit Dienstag erscheint diese Sicherheit wieder gefährlich relativ.

Die Taliban bereiteten ihren Angriff, bereits die dritte spektakuläre Aktion in der Hauptstadt allein im Jahr 2011, offenkundig gut vor. Ein Kommando der Aufständischen hatte sich vermutlich schon länger in einem in Bau befindlichen Gebäude verschanzt. Aus dem obersten Stockwerk hatten die Kämpfer gute Sicht auf die US-Botschaft und das Hauptquartier der Nato. Innerhalb von einer halben Stunde feuerten sie Panzerfäuste, aber wohl auch größere Raketen in Richtung der beiden Einrichtungen. Die Explosionen waren in der ganzen Stadt zu hören. Zwar umstellte die Polizei das Gebäude umgehend. Doch es dauerte Stunden, bis anrückende Spezialeinheiten der Afghanen, die sogenannte Crisis Response Unit (CRU), das Gebäude Etage für Etage zurückeroberten.
In der deutschen Botschaft ging niemand mehr ans Telefon
In der Stadt brach Chaos aus. Einwohner rannten um ihr Leben, während die afghanische Polizei hektisch versuchte, die Taliban-Attentäter zu finden und auszuschalten. Mehr als zwei Stunden saßen die Menschen im Stadtteil Wazir Akbar Khan in ihren Büros und Häusern fest und wagten sich nicht auf die Straße. In dem Gebiet waren immer wieder Schüsse und Explosionen zu hören. "Es klang, als kämen die Einschüsse immer näher", sagte per Telefon ein Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, die ihr Kabuler Büro in dem Stadtteil hat. "Wir saßen mehrere Stunden lang fest, die Straßen waren wie leergefegt. Niemand traute sich raus, solange Schüsse zu hören waren."
Eine der abgefeuerten Raketen traf einen Schulbus, der völlig ausbrannte. Glücklicherweise war das Fahrzeug zur Zeit des Angriffs leer. Am späten Nachmittag berichtete die Polizei von fünf verletzten Zivilisten und einem getöteten Polizisten. Es wird jedoch bezweifelt, dass die Zahl der Toten und Verletzten zutreffend ist. Denn Augenzeugen berichteten von mehreren Toten unter den Sicherheitskräften und Einwohnern der Stadt.
In der US-Botschaft und dem Nato-Hauptquartier schrillten die Alarmsirenen, alle Mitarbeiter wurden in Bunker gebracht. Ob eines der Gelände von einer der Geschosse getroffen wurde, war noch nicht zu klären. Die Schutztruppe Isaf teilte lediglich mit, man habe auf die Angriffe schnell und angemessen reagiert - hauptsächlich hätten aber Afghanen an der ersten Frontlinie gestanden. Aus der US-Botschaft hieß es am Nachmittag, es habe keine Toten und Verletzten unter den Mitarbeitern der Landesvertretung gegeben. In der Deutschen Botschaft, die nicht weit vom Kampfgeschehen liegt, ging seit Ausbruch der Gefechte niemand mehr ans Telefon.
Aber auch außerhalb des Regierungsviertels gab es weitere Selbstmordanschläge in Kabul. Im Westen der Stadt sprengte sich ein Attentäter vor einem Polizeigebäude in die Luft, auch hier war von Toten die Rede. Aus einem anderen Viertel wurde ebenfalls ein Anschlag gemeldet. Nahe dem Flughafen tötete die Polizei nach Augenzeugenberichten einen Selbstmordattentäter, bevor dieser seinen Sprengsatz zünden konnte. Details über die weiteren Angriffe waren kaum zu bekommen, da das afghanische Militär die ganze Stadt absperrte.
Durchhalteparolen von Rasmussen
Die Regierung forderte alle Einwohner auf, sich in ihren Häusern zu verstecken und auf keinen Fall die Kämpfe durch die Fenster zu beobachten. Präsident Hamid Karzai berief noch während der Gefechte sein Sicherheitskabinett zusammen und ließ sich über die Lage rund um seinen Palast informieren.
Der konzertierte Angriff der Taliban wirkt wie eine konsequente Fortsetzung der neuen Strategie der Radikalislamisten. Auch wenn die Guerilla-Armee von Mullah Omar militärisch kaum gegen die internationale Schutztruppe gewinnen kann, wollen die Taliban mit spektakulären Angriffen in Kabul oder anderen Großstädten ihre verbleibende Macht beweisen. Minuten nach den ersten Explosionen verbreitete ihr Sprecher per SMS und E-Mail, man greife "ein weiteres Mal" die afghanische Regierung und die Besatzer aus dem Ausland an. Der Kampf werde so lange weitergehen, bis die Ausländer das Land verlassen hätten, tönte der Sprecher. Währenddessen flimmerten weltweit bereits die Bilder der Gefechte und Explosionen über die Fernsehschirme.
Politische Reaktionen auf den Angriff folgten prompt: Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gab in Brüssel noch während die Gefechte tobten Durchhalteparolen aus: Die Allianz halte am Zeitplan für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Armee und Polizei fest. "Wir sehen, dass die Taliban diese Übergabe testen wollen", sagte der Nato-Chef, "aber sie können das nicht stoppen."
Ungefähr zur gleichen Zeit musste die Nato den Afghanen schließlich doch zur Hilfe eilen. Nur mit Hilfe eines Kampfhelikopters der Allianz gelang es schließlich, das Taliban-Kommando in seinem Versteck auf dem Baugelände auszuschalten.