
Flucht nach Italien: Hoffnung auf ein besseres Leben
Ansturm auf Italien Tausende Afrikaner planen Flucht über Tunesien
Hunderte von erschöpften Flüchtlingen verbringen die kalten Nächte auf der Mole des alten Hafens, des "Porto Vecchio". Wer Glück hat, wird von den Behörden in improvisierten Notunterkünften untergebracht oder vom Inselpfarrer Don Stefano Nastasi in seinem "Haus der Brüderlichkeit" versorgt. Die italienische Regierung verteilt die Menschen, die mit brüchigen Booten aus anlanden, per Luftbrücke und mit wenigen Fähren auf Lager in Sizilien und auf dem italienischen Festland. Denn Lampedusa ist von dem plötzlichen Ansturm der afrikanischen Gäste völlig überfordert.
Lampedusa ist ein kleines, weitgehend ödes Eiland. Kaum neun Kilometer lang, maximal drei Kilometer breit. Ein paar hübsche Naturstrände im Süden, oft schwer zu erreichen. Steilküste im Norden, Taucher-Reviere. Die große Mehrheit der etwa 4500 Einwohner drängelt sich in und um die kleine Hauptstadt, die auch Lampedusa heißt, und lebt vom Fischfang oder vom Tourismus. Das könnte alles ganz nett sein, hätte die Insel nicht ein geografisches Problem: Sie liegt nur gut 100 Kilometer nördlich von Tunesien. Und von dort kommen nun wieder, Nacht für Nacht, kleine Barken und große Schiffe, gefüllt mit Flüchtlingen. 4000 waren es in den vergangenen vier Tagen. Und der Strom reißt nicht ab. Die Flugzeuge der Küstenwache haben viele Boote ausgemacht, die schon auf See sind. Und in den tunesischen Häfen, so heißt es, warten weitere Tausende auf die Überfahrt. 1000 bis 1500 Euro kostet das Ticket für die illegale Passage. Nichts, so scheint es, bremst die Menschen - auch nicht das hohe Risiko.
Die Schiffe sind in schlechtem Zustand, dazu meist völlig überladen. Am Samstag kam es zu einer dieser Katastrophen, die kaum noch jemand wahrnimmt: Ein winziges Boot, "beladen" mit zwölf Menschen, zerbarst, noch ganz nahe der Küste im südtunesischen Golf von Gabes - zehn Passagiere wurden gerettet, einer starb, einer ist vermisst.
Der Ansturm beginnt erst
Die meisten dieser sind Tunesier, die vor der ungewissen Zukunft ihres Landes fliehen. Der Diktator, Zine el-Abiline , der seit 23 Jahren das Land im Griff hatte, ist zwar am 14. Januar vor den demonstrierenden Volksmassen nach Saudi Arabien geflohen. Aber Jobs für das Heer der Arbeitslosen gibt es dadurch noch nicht. Vor allem viele junge Männer wollen einfach nur weg. Polizei und Militär, die bislang die Häfen streng überwacht und illegale Ausreisen weitgehend unterbunden hatten, kümmern sich in diesen Zeiten des politischen Umbruchs nicht mehr darum. Die Pforten nach Europa stehen hier plötzlich weit offen. Das lockt auch Menschen aus anderen nord- oder westafrikanischen Ländern. Der wirkliche Ansturm auf Europa via Tunesien beginnt erst, sagen Experten voraus.
Viele der Einwohner Lampedusas helfen den ungebetenen, fremden Gästen, die plötzlich wieder in Scharen ankommen. Sie bringen etwas zu essen, Getränke, Decken. Sie haben nicht vergessen, dass noch vor ein paar Jahrzehnten auch ihre Landsleute emigrieren mussten, um die Chance auf ein besseres Leben zu suchen. Aber sie haben auch Angst, dass die Touristen ausbleiben, weil sie ihren Urlaub nicht hautnah am Flüchtlingselend verbringen wollen. So war es in den Sommern 2008 und 2009. Als binnen eines Jahres 20.000 Iraker und Afghanen, Kurden, Senegalesen, Nigerianer und viele andere Lampedusa als Tor zu Europa nutzen wollten, hatten die über dreißig Hotels der Insel viele leere Betten.
Marshallplan für Nordafrika
Die italienische Regierung reagierte schnell, aber etwas diffus: In einer Sondersitzung des Kabinetts wurde vor einer "menschlichen Katastrophe" gewarnt und der "humanitäre Notstand" ausgerufen. Zugleich empörte sich Roms Innenminister Roberto Maroni, die neue tunesische Regierung halte sich nicht mehr an das bilaterale Abkommen zur Begrenzung von Flüchtlingsströmen zwischen Tunesien und . Maroni ist von der "Lega Nord", einer tendenziell ausländerfeindlichen Partei, und er ist verantwortlich dafür, dass in Lampedusa vor geraumer Weile das "Empfangszentrum" für Flüchtlinge - so der zynische Name für ein stacheldrahtumzäuntes 1000-Betten-Auffanglager - geschlossen wurde. Die "Boatpeople" aus sollten abgeschreckt werden. Und wenn sie dennoch italienische Hoheitsgewässer oder sogar die Insel Lampedusa erreichten, sollten sie umgehend zurückgeschickt werden, ohne erst lange ihren möglichen Asylanspruch zu prüfen. Nun stehen die Angestellten des Lampedusa-Zentrums ratlos vor dem Flüchtlingschaos und dürfen nichts tun.
Klar ist der Regierung in Rom, dass der neue Zustrom so schnell nicht abebben wird. Innenminister Maroni will deshalb die EU in Mithaftung nehmen. Die Flüchtlingswelle sei schließlich kein italienisches Problem. Zudem bestehe die Gefahr, dass sich auch Terroristen unter die Immigranten mischen könnten, warnte er. Die Lage in Ägypten und Tunesien gefährde die Sicherheit Europas.
Außenminister Franco Frattini, aus Berlusconis Partei "Volk der Freiheit", denkt da schon weiter. Europa müsse über eine Art "Marshallplan für Nordafrika" nachdenken, sagt er. Die Wirtschaft dieser Länder müsse gefördert werden, damit die jungen Menschen Jobs und Entfaltungsmöglichkeiten fänden und sich nicht gezwungen sähen, ihr Land zu verlassen. Ähnliche Vorschläge gibt es seit vielen Jahren. Doch nie haben die EU-Staaten auch nur ansatzweise daran gedacht, die Südküste des Mittelmeeres wirklich in ihre langfristige politisch-ökologische Strategie einzubauen. Eine ordentliche Summe Geld floss, mit dem sich die Oberschicht die Taschen füllte. Das war es. Mehr brauchte es auch nicht. Denn dort sorgten ja Diktatoren für die erwünschte Ruhe.
Nun werden diese Machthaber, einer nach dem anderen, verjagt. Und alle EU-Regierungen begrüßen die in Aussicht stehende Demokratisierung der nordafrikanischen Staaten mit hehren Worten. Vielleicht meinen sie es ja auch ernst und helfen wirklich, dort Arbeitsplätze zu schaffen.