Arafats Beerdigung Ein Abschied nach seinem Geschmack

Sein eigenes Begräbnis hätte Jassir Arafat sicher gut gefallen: Zehntausende Anhänger kämpften sich ihren Weg in die abgesperrte Mukata einfach frei, wo der verstorbene Palästinenserpräsident zur letzten Ruhe gebettet wurde. Mit Gewehrsalven, Tränen und Gebeten nahmen die Palästinenser Abschied.
Von Yassin Musharbash

Ramallah - Die Schwachstelle ist der Zaun, der in zwei Meter Höhe auf der Umgebungsmauer verläuft und eine kleine Lücke hat: Der wagemutige Jungendliche kann sein Glück kaum fassen: Nicht nur ist es ihm gelungen, die Mauer zu erklimmen, er schafft es auch noch, sich den Händen der nach ihm greifenden Sicherheitskräfte zu entwinden. Sofort folgt sein Freund ihm nach und spreizt lachend die Finger zum Victory-Zeichen, als auch er unverhofft ins eigentlich abgesperrte Innere der Mukata gelangt ist, wo gleich der Hubschrauber mit dem Leichnam Jassir Arafats landen soll. Dem dritten Kletterer helfen dann schon die resignierenden Sicherheitsbeamten beim Aufstieg.

Von da an gibt es kein Halten mehr: "Einer nach dem anderen", mehr können die Polizisten nicht mehr sagen, als ein vierter und fünfter, sechster und siebter Arafat-Verehrer ihren Weg nach oben antreten und ohne Rücksicht auf Verletzungen in den Stacheldraht greifen.

Hinter ihnen formt sich augenblicklich eine Schlange: Seit Stunden begehrt ein Meer von Menschen Einlass, will dabei sein, wenn das nationale Symbol der Palästinenser beerdigt wird. Schließlich, mittlerweile ist der Zaun unter dem Ansturm vollkommen verbogen, haben die Offiziellen ein Einsehen, machen den Haupteingang auf und Zehntausende Palästinenser strömen jubelnd in die Mukata. "Arafat wäre stolz auf uns gewesen", sagen viele halb ernsthaft, halb im Spaß über die Eroberung der Mukata.

Im Nu füllt sich das weit gestreckte Gelände mit Jugendlichen, die schwarz-weiß gemusterte Keffiyas tragen, mit alten Frauen mit bunten Trachtengewändern, mit herausgeputzten Kindern und Fahnen schwingenden Männern. Sie sitzen auf der Erde, klettern auf Bäume, steigen auf Mauern und stehen dicht gedrängt, in unzähligen Reihen um das Grab herum. Sogar auf den Dächern der umliegenden Häuser sammeln sich die Palästinenser in Trauben, weil es im Inneren nun wirklich voll ist. "Ich habe das Gefühl, alle vier Millionen Palästinenser sind hier", sagt eine Frau zu ihrem Mann.

Geplant war das alles nicht, eigentlich hätte Arafat in aller Ruhe, unter Teilnahme ausgewählter Würdenträger und zu Marschmusik, beerdigt werden sollen. Doch davon kann nun keine Rede mehr sein. Die Musiker, die gestern Nacht noch geprobt haben, nehmen nicht einmal ihre Instrumente mit auf das Gelände. Noch nach seinem Tod sorgt Arafat dafür, dass Populismus über alles Formale siegt. Das Gefühl der Trauer, Leere und Verzweifelung, das die Palästinenser seit dem Tod Arafats mit sich herumtragen, die Sorge über die Zukunft - hier und heute, glauben sie, ist der richtige Ort, es zu zeigen.

"Ich wünschte, ich hätte ihn persönlich getroffen"

Einer von den Zehntausenden, die aus Jerusalem und allen Städten der Westbank angereist sind, um ihrem "Rais" die letzte Ehre zu erweisen, ist der 69-jährige Hisham Khalifa aus der Nähe von Dschenin. Er trägt ein traditionelles, bodenlanges Gewand und ein weißes Kopftuch. Hischam vertritt sein ganzes Dorf hier. "Um nichts in der Welt hätte ich es mir entgehen lassen, heute dabei zu sein", sagt er, als er sich im Schatten eines Baumes an eine Wand anlehnt. "Abu Ammar war unser aller Vater und Führer, ohne ihn hätten wir noch immer gar keine Rechte." Um sicher zu gehen, ist Hischam bereits gestern nach Ramallah gereist. "Gott sei Dank", sagt er. Denn per Handy erfährt er, dass tausende in dieser Stunde an Checkpoints der israelischen Armee feststecken und die Beerdigung verpassen werden.

Aus einem Dorf in der Nähe von Ramallah ist Fatima angereist, eine alte Bäuerin mit hennagefärbtem Haar und einem roten, selbst gestickten Kleid. "Ich wünschte nur, ich hätte Arafat einmal persönlich getroffen", sagt sie. Fatima ist mit der gesamten Familie gekommen, zehn Personen insgesamt. Vielen im Inneren der Mukata macht das Gedränge zu schaffen, insbesondere, weil heute der letzte Freitag im Ramadan ist, die Muslime also nicht einmal Wasser zu sich nehmen dürfen und die anwesenden Christen dies aus Rücksicht nicht tun. Gelegentlich werden Ohnmächtige zu den Sanitätern des Roten Halbmondes gebracht. Fatima wedelt sich mit eine Zeitung frische Luft zu.

Der Hubschrauber kommt an

Dann hebt plötzlich ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert an, unterbrochen von Jubelrufen - vier Hubschrauber erscheinen als kleine Punkte am Horizont, werden schnell größer und sind nun auch zu hören. Die Menschenmasse bewegt sich auf das erst in den letzten zwei Tagen gebaute Grab zu, denn jeder, wirklich jeder will den Sarg des verstorbenen Präsidenten wenigstens einen Moment lang zu Gesicht bekommen. Fast können die Helikopter nicht landen, Polizisten gelingt es schließlich, einen Korridor zu errichten. "Jassir, Jassir", rufen die Menschen im Chor und recken die Arme in die Luft, als könnte der Verstorbene sie sehen und hören.

Endlich, nach einer weiteren halben Stunde Wartens, wird der Sarg zum Grab getragen, aber sehr schnell, die meisten Palästinenser erhaschen trotz heftigem Drücken und flehentlichem Bitten der Umstehenden nur einen kurzen Blick. Ghada, eine junge Mutter aus Betlehem, hebt abwechselnd ihre beiden kleinen Söhne auf ihre Schultern und schärft ihnen ein: "Diesen Tag dürft ihr nie vergessen!" Sie selbst geht leer aus. Mitglieder der auf Arafat eingeschworenen Arafat-Brigaden feuern derweil Minuten lang mit Maschinengewehren und Revolvern in die Luft, um ihren Anführer zu ehren, nach dem sie seit vorgestern offiziell benannt sind. "Mit unserer Seele, mit unserem Blut, kämpfen wir für Dich", skandieren sie.

Neben der Mutter steht eine andere junge Frau, sie trägt ein schwarzes Kopftuch und eine blaue Sonnenbrille, und in dem Moment, in dem sie den Sarg sieht, fängt sie bitterlich an zu weinen. Sie kann sich kaum auf den Beinen halten, schluchzt laut, beißt sich auf die Lippen. Ein Mann neben ihr weint ebenfalls, setzt sich auf den Boden, formt die Hand zu Faust und drückt sie in den roten Sand. Der liegt erst seit gestern hier und gehört zu einer Lieferung Jerusalemer Erde, in die Arafats Sarg in diesem Moment, für die meisten unsichtbar, gebettet wird. Es folgt der bewegendste Moment dieses Nachmittages: Zehntausende rezitieren, wie auf ein geheimes Signal hin, die Eröffnungssure des Koran.

Ruhe vor dem Sturm?

Der Unterschied zwischen dieser emotionsgeladenen, dramatischen Massenversammlung und der getragenen, offiziellen Zeremonie am Morgen, die zu Arafats Ehren in Kairo stattgefunden hat, könnte größer nicht sein. Dies hier ist eine Beerdigung für das Volk, durch das Volk, auch wenn es so nicht vorgesehen war. Zur befürchteten Massenpanik kommt es nicht, aber vielleicht auch nur deshalb nicht, weil die Trauernden sich den Zugang in die Mukata erkämpft haben. Anderenfalls hätten sie sich alle in der schmalen Straße davor aufhalten müssen, Verletzte und Chaos, vielleicht Unruhen, wären kaum zu verhindern gewesen.

Nach ungefähr zwei Stunden ist dann alles vorbei: Die Menschen dringen durch das Tor nach draußen, die Zugereisten laufen die Hauptstraße hinunter zu der Straßensperre, an der die Sammeltaxen parken mussten. Es dauert nicht mehr lange, bis die Dämmerung einsetzt und die Menschen wieder essen dürfen. Das zufällige Timing hat sich als günstig heraus gestellt: Niemandem ist nach Stunden im prallen Sonnenschein inmitten eines Menschengedränges mehr danach, jetzt noch einen weiteren Marsch, eine zusätzliche Demonstration zu veranstalten. Plötzlich ist es ganz ruhig in Ramallah. Fast gespenstisch ist die Atmosphäre nach der Aufregung der letzen Tage. Ob dies die Ruhe vor dem Sturm ist, oder ob sich nun einfach nur die unmittelbaren Gefühle entladen haben - niemand mag das heute vorhersagen.

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