Arafats Nachfolge Palästinenser misstrauen den Anti-Helden
Ramallah - In diesen Tagen müssen wegen Arafats Abwesenheit etliche Menschen unnötig leiden, denn auf dem Schreibtisch des Präsidenten stapeln sich nun die unbearbeiteten Unterstützungsgesuche erkrankter Menschen. Sie bitten den ebenfalls schwer erkrankten und nach Paris ausgeflogenen "Rais" um die Übernahme ihrer Behandlungs- oder Operationskosten. Oft und gerne hat Arafat solche Wünsche erfüllt. Mitarbeiter des Präsidenten gewährten einigen Journalisten gestern einen Blick auf diese Dokumente. Einen Stapel hat Arafat noch unterschreiben können; ein zweiter wartet noch auf die alles entscheidende Signatur.
Diese kleine Detail aus der willkürlichen Amtsführung des im Koma liegenden Autokraten verdeutlicht, wie groß das Loch sein wird, das dessen vermutlich kurz bevorstehender Tod hier in den palästinensischen Gebieten reißt. Noch die winzigste Entscheidung hat Arafat in den vergangenen Jahrzehnten selbst getroffen. Niemand, auch nicht seine engsten Vertrauten, könnten seine Geschäfte ohne größere Übergangsphase übernehmen. Sie waren oft genug zufrieden damit, dass "Abu Ammar" die Verantwortung für alles und jeden bereitwillig an sich zog.
In den palästinensischen Gebieten ist das jedem bewusst. Mit den beiden nahezu einzig denkbaren, quasi natürlichen Nachfolgern für Arafat verbindet deshalb niemand Hoffnungen auf einen Aufbruch. Schlimmer noch: Der amtierende Premierminister Ahmad Kurei und sein glückloser Vorgänger Mahmud Abbas, gelten als die Speerspitze der Korruption, die den Palästinensern seit Errichtung ihrer Autonomiebehörde das Leben erschwert hat. "Das Problem war nie Arafat", sagt Khalid, ein Ladenbesitzer in der Hauptstraße von Ramallah, "sondern die Leute um ihn herum." Das Problem ist bloß: Es gibt sonst niemanden.
Profitieren die Radikalen von Arafats Ausfall?
Der renommierte Politikwissenschaftler Hischam Ahmad ist überzeugt, dass diese skeptische Einstellung von einer großen Mehrheit geteilt wird. "Niemand von den beiden hat genügend Popularität, um sich Autorität zu verschaffen, oder wird genug Macht erhalten, um sich durchzusetzen." In seiner schmucklosen Wohnung zeichnet der blinde Universitätsprofessor ein düsteres Bild: Nur Arafat, als Symbol aller Palästinenser, habe die Fähigkeit, das Volk zu einen. Nach dessen Tod, prophezeit er, werden vor allem Hamas und Dschihad Islami an Zustimmung gewinnen. Beide radikal-islamischen Organisationen haben neben einem politischen auch einen terroristischen Flügel und sind für zahlreiche Anschläge auf israelische Zivilisten verantwortlich.
Die Abneigung der Palästinenser gegen Mahmud Abbas, alias Abu Mazen, und Ahmed Kurei, alias Abu Ala, besteht seit Jahren, auch wenn die beiden Abus Arafats älteste Kampfgefährten sind. "Sieh dir doch nur ihre protzigen Häuser an", klagt die 27-jährige Sekretärin Intisar. "Die haben vielleicht Probleme mit ihren Ferienhäusern in Ägypten, aber bestimmt nicht dieselben Sorgen wie ich." Vor einigen Monaten tauchten in der internationalen Presse Hinweise auf, dass der Premier Kurei einen Teil seines Vermögens ausgerechnet damit verdient hat, den Zement zum Bau israelischer Siedlungen an die Israelis geliefert zu haben - und möglicherweise auch den Baustoff für die umstrittene Trennungsanlage, die den Palästinensern entlang der Grenze zu Israel das Leben erschwert. Die Empörung darüber teilen so gut wie alle Palästinenser, auch wenn nichts bewiesen ist.
Auch Intisar schäumt über diesen "Verrat". In den Augen der jungen, ein schwarzes Kopftuch tragenden Frau, kann allerdings auch Arafat nicht bestehen: Von wo er denn das Geld nehme, dass er an diejenigen verteile, die eine Operation bräuchten, fragt sie mit blitzenden Augen. Es müsse es sich wohl um jene Finanzmittel handeln, die als Unterstützung für die Palästinenser insgesamt aus dem Ausland gegeben worden seien. Intisar sähe diese Millionen lieber gerechter verteilt.
Beide Abus sind Anhänger von Verhandlungen
Abu Ala und Abu Mazen sind Urgesteine der palästinensischen Freiheitsbewegung. Beide sind Mitte der dreißiger Jahre geboren und damit nur unwesentlich jünger als der 75 Jahre alte Arafat. Abu Mazen ist Gründungsmitglied der Fatah, der größten PLO-Fraktion, der auch Arafat angehört. Erst 1995 kehrte er nach 48 Jahren im Exil in mehreren arabischen Ländern in die Westbank zurück. Als auf internationalen Druck hin 2002 das Amt eines Premierministers geschaffen wurde, fiel Arafats Wahl auf ihn. Nach nur vier Monaten warf Abbas allerdings das Handtuch: Er habe zu wenig Befugnisse erhalten, erklärte er nach einem Streit mit Arafat. In den Augen der Palästinenser wird ihm das allerdings nicht als Ausweis seiner Integrität, sondern eher als Mangel an Durchhaltevermögen ausgelegt.
Israel, den USA und den Europäern gilt Abu Mazen als willkommener Partner. Schon 1970, lange vor Arafat, sprach er sich für eine Verhandlungslösung aus. Sieben Jahre später nahm er das Wort von der "Zwei-Staaten-Lösung" in den Mund, als der Rest der PLO Israel noch von der Landkarte tilgen wollte. Konsequenterweise war er eine Schlüsselfigur bei den Geheimverhandlungen von Oslo Mitte der neunziger Jahre, die schließlich zum Erhalt der teilweisen Autonomie für die Palästinenser führten.
Israels Premier Ariel Scharon hätte es schwer, Verhandlungen mit Abu Mazen auszuschlagen. Die Palästinenser fürchten sich aber vor dessen Kompromissbereitschaft. Mahmud Abbas, heißt es, würde zu viel Land an Israel abtreten und sich mit zu wenig zufrieden geben.
Auch Ahmad Kurei nahm an den Oslo-Gesprächen teil. Später verhandelte er für die Palästinenser in Camp David (2000) und Taba (2001), wo allerdings keine Abkommen zustande kamen. Der aus wohlhabender Familie stammende Kurei hatte 1968 sein Job als Banker aufgegeben, um sich der PLO anzuschließen. Doch genau wie Mahmud Abbas hat auch Abu Ala in den Jahren im Untergrund keine Heldentaten vollbracht, von denen er noch heute zehren könnte. Die Palästinenser verbinden mit ihm, neben dem Zement-Skandal, stattdessen noch am ehesten, dass er die PLO-eigene Firma Samed heruntergewirtschaftet hat.
Legitimität durch Wahlen
Angesichts dieser Nachfolgeaussichten ist es den Palästinensern besonders wichtig, dass der nächste Präsident zumindest in einer Wahl anschließend demokratisch legitimiert wird. Seit Wochen laufen, unabhängig vom Zusammenbruch Arafats, die Vorbereitungen dafür. Anfang 2005 soll der Urnengang stattfinden. "Nur wer sich dann durchsetzt, kann erwarten, dass wir ihm Respekt entgegen bringen", findet der Telekommunikationsfachmann Hassan. Aber Hasan ist überzeugt, dass trotzdem eine neue Ära anbrechen wird: Niemand werde jemals wieder ein Symbol sein, wie es Arafat war. Sogar die oppositionellen Fraktionen erkannten ihn als Führer aller Palästinenser an, meint der drahtige 30-Jährige. Er weiß, wovon er spricht, denn eigentlich neigt er der Hamas zu.
Von ihrer mangelnden Popularität vollkommen unberührt setzten Abu Mazen und Abu Ala am Samstag ihre bereits vor einer Woche begonnen Vorbereitungen für die Machtaufteilung fort: Mahmud Abbas leitete eine Sitzung der PLO in Ramallah, in der es neben den Konsequenzen der Präsidentenwahl in den USA auch um den Zustand des eigenen Präsidenten gehen sollte. Zeitgleich traf sich Ahmad Kurei in Gaza mit Vertretern der Hamas und des Dschihad Islami, um sie darauf einzuschwören, stillzuhalten.
Bereits gestern hatten sich 13 palästinensische Politorganisationen geeinigt, angesichts der besonderen Umstände vorübergehend zu kooperieren. Denkbar scheint, dass nun eine Übergangsregierung unter Beteiligung der Hamas zu Stande kommt. Dauerhaft allerdings dürfte dieses Modell nicht bestehen: Es ist ausgeschlossen, dass Israel je mit der Hamas verhandelt, bevor diese den bewaffneten Kampf einstellt, der sie überhaupt erst populär gemacht hat.
Unklar ist derweil freilich, ob sich der letztlich für das Präsidentenamt auserkorene Abu den Wählern überhaupt wird stellen können: Der Urnengang ist nur denkbar, wenn die israelische Armee zumindest für einige Tage komplett aus den besetzten Gebieten abzieht, um die Bewegungsfreiheit zu gewährleisten. Doch in Israel gibt es Befürchtungen, in den palästinensischen Gebieten könnte Chaos ausbrechen, was in den Augen der Armee für eine verstärkte Präsenz spricht. Möglich also, dass der neue Interimspräsident wegen der Besatzung ebenso wie Arafat ohne Mandat regieren muss.