Reform in Argentinien
Hunderttausende Frauen treiben illegal ab. Tausende sind dabei gestorben
Argentinien hat eine historische Abtreibungsreform auf den Weg gebracht, die das Land spaltet. Hier erzählen eine Aktivistin, eine Anwältin und eine Ärztin, warum die Lockerungen so notwendig sind.
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Rund 20 Stunden warteten sie auf die Entscheidung, die das Land in zwei verfeindete Lager teilt: Während der Nationalkongress darüber diskutierte, Abtreibungen in Argentinien zu erlauben, trommelten, tanzten und marschierten Tausende Befürworterinnen der Reform durch die Straßen der Hauptstadt Buenos Aires – und Gegnerinnen warnten mit blutverschmierten Plastikpuppen vor einem »Genozid«.
Am Freitagmorgen hat die Mehrheit der Abgeordneten schließlich nach einer Marathondebatte für die Reform entschieden: Sie sieht vor, dass Frauen künftig in den ersten 14 Wochen ihrer Schwangerschaft legal abtreiben dürfen. Stimmt auch der Senat zu, könnte die Neuerung noch dieses Jahr in Kraft treten.
Feministinnen in Argentinien kämpfen seit Jahren für ein liberaleres Abtreibungsgesetz
Foto: Alejo Manuel Avila / Le Pictoriu / imago images/Le Pictorium
Es wäre ein historischer Moment, denn bisher gelten Abtreibungen als Straftat. Schwangere in Argentinien dürfen nur in Ausnahmefällen abtreiben – wenn sie vergewaltigt wurden oder falls das Leben der werdenden Mutter in Gefahr ist. Doch manchmal weigern sich Ärzte selbst in solchen Fällen, Eingriffe vorzunehmen: Eine Elfjährige aus Tucumán musste ihr Kind nach einer Vergewaltigung im vergangenen Jahr in Lebensgefahr und per Kaiserschnitt zur Welt bringen.
Die Kriminalisierung treibt Frauen in den Untergrund: Jährlich beenden Schätzungen zufolge zwischen 300.000 und 500.000 Frauen illegal eine Schwangerschaft, Tausende sind schon dabei gestorben. Seit fünfzehn Jahren kämpft das Bündnis »La Campaña Nacional por el Derecho al Aborto legal, Seguro y Gratuito« (Nationale Kampagne für das Recht auf eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung) für eine Reform.
Und in den vergangenen Jahren ist die feministische Bewegung in Argentinien immer größer geworden, Hunderttausende protestierten im ganzen Land lautstark und immer wieder für bessere Frauenrechte.
Tausende fordern ein liberales Abtreibungsgesetz
Foto: EMILIANO LASALVIA / AFP
Der Kongress hatte bereits 2018 einer Liberalisierung zugestimmt – doch das Vorhaben scheiterte damals im konservativen Senat. Diesmal haben die Aktivistinnen Hoffnung, dass es klappt – auch weil Präsident Alberto Fernández hinter dem Vorhaben steht. Allerdings muss der Senat noch zustimmen.
Hier erzählen eine Aktivistin, eine Anwältin und eine Ärztin aus Argentinien, warum sie das neue Gesetz für notwendig halten.
Nayla Procopio, 25, Psychologiestudentin und Aktivistin: »Mit einer Reform müssten nicht mehr so viele Frauen sterben«
»Es ist ein total emotionaler Moment für mich – ich bin voller Hoffnung, aber auch voller Angst, dass im letzten Moment doch noch etwas die Reform verhindert. Ich kämpfe seit zwei Jahren auf der Straße, aber auch in sozialen Netzwerken dafür, dass Abtreibungen liberalisiert werden.
Vor der Pandemie haben wir ständig protestiert. Bei den großen Märschen 2018 haben erst nur einige das grüne Halstuch getragen, das das Recht auf Abtreibungen symbolisiert. Dann wurde es zu einem Trend, zu unserem Erkennungszeichen: Die ›marea verde‹, die grüne Welle, hat die Straßen und die öffentlichen Plätze überschwemmt. Die Sichtbarkeit hat Druck auf die Politik aufgebaut, aber das Tuch gibt uns auch das Gefühl, wie Schwestern zu sein, es hat unser Gemeinschaftsgefühl gestärkt.
Abtreibungen sind in Argentinien ein Stigma. Wenn etwas passiert, wird immer die Frau dafür verantwortlich gemacht. Als Jugendliche ist mir bewusst geworden, dass wir in vielen Bereichen benachteiligt sind. Meine Freundinnen und ich haben alle sexuelle Übergriffe erlebt. Sexuelle Gewalt ist in Argentinien Alltag, und es gibt nicht genug Gesetze, die uns schützen, und Berater oder Informationen, die uns helfen, gute Entscheidungen zu treffen.
Mittlerweile ist sichtbarer geworden, wie viele Frauen schon abgetrieben haben, wir tauschen uns mehr aus. Mädchen und Frauen können auch auf feministische Netzwerke zählen, die sie während einer ungewollten Schwangerschaft beratend begleitend – aber nicht alle Frauen haben Zugang zu Hilfe und Informationen.
Ich will nicht nur, dass Abtreibungen legal, sicher und kostenlos werden, es geht auch um eine gute Gesundheitsversorgung für alle und dass wir über unsere Körper, über unsere Sexualität, unser Leben frei entscheiden können. Mit einer Reform müssten nicht mehr so viele Frauen und Mädchen, die heimlich abtreiben, sterben. Denn Frauen werden weiter abtreiben, egal ob es illegal oder legal ist – die Frage ist nur, unter welchen Umständen.
Wir können nicht länger warten. Falls die Reform im Senat doch nicht durchkommen sollte, werden wir weitermachen und wieder die Straßen fluten. Das Recht auf Abtreibung wird kommen – früher oder später.«
Eine Abtreibung wäre für Rosa Angela Daneri ein moralisches Dilemma, dennoch unterstützt sie die Reform
Foto: privat
Rosa Angela Daneri, 69, Ärztin: »Es würde mir das Herz brechen, wenn ich eine Abtreibung vornehmen müsste – aber wir brauchen die Reform«
»Ich habe in 39 Berufsjahren bei mehr als 3500 Entbindungen und Kaiserschnitten geholfen und alle Kinder haben überlebt. Es würde mir das Herz brechen, wenn ich eine Abtreibung vornehmen müsste – aber wir brauchen die Reform, weil sie dem Wohl der Frauen dient. Es ist schlimm, dass die Gesellschaft so polarisiert ist und sich bekämpft; alle sollten zusammenarbeiten, um das bestmögliche Gesetz für Frauen auf den Weg zu bringen.
Ich habe meistens fern der Hauptstadt, in armen Regionen gearbeitet. Dort sind viele Patientinnen mit Blutungen zu mir gekommen, denen eine Krankenschwester oder eine Hebamme zuvor illegal bei der Abtreibung geholfen hatte. Der Fötus war schon weg, aber sie wollten, dass ich die Plazenta entferne und mich um die Frau kümmere, und wir haben sie nie abgewiesen.
Die Entscheidung wird das Leben vieler Argentinierinnen prägen
Foto: AGUSTIN MARCARIAN / REUTERS
Manche Dörfer haben aber gar keinen Zugang zu Krankenstationen oder Ärzten. Lokale Heiler provozieren dort Abtreibungen mit obskuren Methoden und die Müttersterblichkeit ist besonders hoch. Da hilft auch kein Gesetz, weil das völlig unkontrolliert abläuft. Argentinien müsste dafür sorgen, dass alle Regionen eine angemessene Gesundheitsversorgung erhalten, aber dafür fehlen die Ressourcen, weil das Land pleite ist.
Auch sexuelle Aufklärung ist wichtig, um ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. Ein Mädchen, das abgetrieben hat, war erst elf, viele waren zwischen 15 und 25 Jahren alt. Es gibt aber auch ältere Frauen, die schon Kinder haben und nicht wissen, wie sie noch eines durchbringen sollen.
Ich finde, dass Ärzte auch in Zukunft nicht gezwungen werden sollten, Abtreibungen vorzunehmen. Es müsste eine Art Datenbank geben mit professionellen Medizinern, die das vertreten und an die Schwangere sich wenden können – das würde allen Seiten helfen.«
Anwältin Natalia Gherardi kämpft für Frauenrechte
Foto: privat
Natalia Gherardi, 49, Anwältin und Gründerin der NGO »ELA«: »Frauen, die abtreiben, können sogar ins Gefängnis kommen«
»Die bisherige Regelung ist 100 Jahre alt, sie wurden von einem Kongress im Jahr 1921 verabschiedet, der ausschließlich aus Männern bestand, die von Männern gewählt wurden – und das Gesetz war für eine Gesellschaft bestimmt, die anders ist als die Gesellschaft von heute.
Es geht hier nicht um eine ideologische Entscheidung, ob Abtreibungen gut oder schlecht sind. Ich möchte, dass jede Frau in den ersten 14 Wochen einer Schwangerschaft frei entscheiden kann, was sie will – ob sie abtreiben oder ob sie das Kind behalten möchte. Es darf nicht sein, dass nur privilegierte Frauen Zugang zu sicheren Abtreibungen haben, weil sie es sich leisten können.
Frauen, die abtreiben, können sogar ins Gefängnis kommen. Ich kenne Frauen, die ins Krankenhaus gegangen sind, um eine legale Abtreibung – also nach sexueller Gewalt oder aus gesundheitlichen Gründen – vornehmen zu lassen, und aufgrund falscher Anschuldigungen einen Prozess am Hals hatten. Selbst wenn sie nicht verurteilt werden, ist dieser Prozess schon hart genug.
In Argentinien werden Abtreibungen bisher kriminalisiert
Foto: Tomas Cuesta / Getty Images
Es gibt aber auch Fälle, in denen Frauen kriminalisiert wurden, weil sie eine Fehlgeburt hatten. Weil ihnen nicht geglaubt wurde, dass die Schwangerschaft auf natürlichem Weg geendet hat, wurden sie zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Eine Reform würde auch andere Barrieren beseitigen: Sie würde den Zugang zu Informationen verbessern, das Stigma verringern und es würde dann hoffentlich noch mehr Gesundheitsdienste geben, die Frauen begleiten.«
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