Abtreibung von Mädchen in Armenien - eine Mutter erzählt "Ich wollte nicht mehr leben"

"Warum eine Tochter, kein Sohn?": Diese armenische Frau, die anonym bleiben möchte, wurde von ihrer Familie gedrängt, abzutreiben
Foto: Luisa WillmannIn Armenien werden jedes Jahr 1400 Föten abgetrieben, weil sie weiblich sind. Zwar gibt es seit 2016 ein Gesetz, das solche geschlechtsbezogenen Abtreibungen verbietet. Dennoch wird immer wieder darüber berichtet, dass Familien Druck auf Schwangere ausüben und sie zur Abtreibung drängen, sollten die Frauen ein Mädchen erwarten.
Der Glaube daran, dass ein Sohn wertvoller sei als eine Tochter, ist noch immer weitverbreitet in dem Land. Lesen Sie dazu hier eine Analyse.
Hier erzählt eine Frau, was sie erlebt hat, und wie ihre Familie Druck auf sie ausübte, solange, bis sie am Ende ihre Schwangerschaft beendete.
"Es lagen zwei Pillen Cytotec auf dem Küchentisch. Ich wusste, wenn ich sie schlucke, wird der Fötus in meinem Bauch sterben. Meine Schwiegermutter sagte: 'Es gibt keinen Platz für das Mädchen.' Nachmittags fragt sie nach: 'Warum hast du die Pillen noch nicht genommen?'
Ich versprach ihr, dass ich sie bald nehmen werde. Das war vor sieben Jahren. Jetzt bin ich vierzig Jahre alt und wohne mit meiner Tochter in einer kleinen Wohnung, fünfzig Kilometer von meiner Schwiegermutter entfernt.
'Warum eine Tochter, warum kein Sohn?'
Ich habe in der Provinz Gegharkunik studiert. An der Universität lernte ich meinen Mann kennen. Nach dreizehn Jahren heirateten wir. Weder Freunde noch Familienmitglieder konnten sich vorstellen, dass wir uns jemals scheiden lassen. Damals wünschte ich mir, bei meiner Schwiegermutter zu leben, denn wir hatten eine gute Beziehung.
Als ich meine erste Tochter bekam, ahnte ich noch nichts. Wir benannten sie nach ihrer Großmutter. Doch die fragte nur: 'Warum eine Tochter, warum kein Sohn?'
Dann starb mein Schwager. Meine Schwiegermutter hatte drei Söhne: Einer war nun tot, der zweite geschieden, der dritte mein Mann. Ich war wieder schwanger. Meine Schwiegermutter hatte bereits zwei Enkelsöhne, und auch ich sollte einen Jungen bekommen, der das Familienerbe weiterführt.
Ich machte einen Ultraschall: erneut ein Mädchen. Damals war meine Tochter sieben Monate alt, und meine Schwiegermutter kümmerte sich lieber um die Enkelsöhne als um sie.
'Jetzt machst du das!'
Zu dem Zeitpunkt machte ich den Haushalt, obwohl ich mich nicht gut fühlte. Als ich abends mit meinem Baby im Bett lag, musste ich mich erbrechen. Meine Schwiegermutter wollte, dass ich trotzdem mitesse. Mein Mann kam nach Hause, küsste erst seine Mutter, danach mich.
Dann schrie meine Schwiegermutter: 'Deine Frau spricht nicht mit mir!' Daraufhin prügelte mein Mann mich. Meine Schwiegermutter nahm alle Kissen und Decken von unserem Ehebett und machte in einem anderen Raum das Bett für ihren Sohn. Ich verbrachte die Nacht eingewickelt in ein Badetuch.
Als meine Schwiegermutter forderte, dass ich abtreiben soll, verließ ich weinend das Haus. Ich vertraute mich der Schwester meiner Schwiegermutter an, doch die verpfiff mich. 'Warum lüftest du unser Geheimnis?', schrie meine Schwiegermutter, als ich wieder zu Hause war.
Damals dachte ich noch, dass ich mich nicht scheiden lassen kann. Ich wollte die Ehe fortführen. Doch mein Mann trank immer wieder Alkohol, er wollte die Probleme nicht wahrhaben.
Meine Schwiegermutter informierte sich bei Nachbarn über Möglichkeiten abzutreiben und schickte meinen Schwiegervater in die Apotheke, der die Wirkung von Cytotec nicht kannte. Er kaufte das Medikament, unwissend. Meine Schwiegermutter nahm zwei Pillen und drückte sie mir in die Hand: 'Jetzt machst du das!', sagte sie. Und ich schluckte sie. Am Abend führte ich zwei weitere Pillen vaginal ein und legte mich ins Bett.
Später machte ich einen Schwangerschaftstest. Er war positiv, trotz Cytotec.
Ich entschied mich, das Haus zu verlassen. Ich räumte auf, legte meine goldenen Ringe und Ketten ab und hielt meine Tochter als Schutz vor mich, denn mein Mann wollte mich nicht gehen lassen. Doch mein Schwiegervater stellte sich zwischen uns, er sagte: 'Es ist deine Entscheidung.' Ich zog vorübergehend zu meiner Schwester und reichte die Scheidung ein.
'Es ist zu riskant, das Kind zu bekommen'
Dann ging ich zu einer Ärztin. Das Medikament hatte Auswirkungen auf den Fötus. Die Ärztin sagte: 'Es ist zu riskant, das Kind zu bekommen.' Ich trieb ab.
Hinterher sagten Freunde und Verwandte zu mir: 'Das macht nichts, viele Frauen treiben ab.' Ich aber wollte nicht mehr leben. Ich hatte einen Menschen getötet. Nur meine ältere Tochter und mein Glaube gaben mir Kraft.
Wenn ich mich heute mit meinem Ex-Mann an einen Tisch setze, fragt er: 'Warum hast du meinem zweiten Kind kein Leben gegeben?' Dann erinnere ich ihn daran, unter welchem Druck ich das Medikament genommen habe.
Mein Ex-Mann arbeitet nicht, er trinkt immer noch. Laut Gesetz müsste er mich finanziell unterstützen, doch er zahlt nicht. Und ich verlange nichts. Ich habe ihn trotz allem geliebt und werde ihn lieben. Ich möchte keinen anderen Mann. Meine Schwiegermutter habe ich vier Jahre nach der Scheidung bei der Beerdigung meines Schwiegervaters wiedergesehen. Sie umarmte mich. Vielleicht bereut sie es.
Ich habe einigen Nachbarinnen meine Geschichte erzählt, um sie zu überzeugen, ihre Mädchen auszutragen. Ich möchte, dass sie nicht den gleichen Fehler machen wie ich. Auch Freundinnen aus Eriwan erzähle ich davon, sogar Freundinnen von Freunden. Ihre Mädchen wurden alle geboren."
Anmerkung: Die Frau möchte anonym bleiben, ihr Name ist der Redaktion bekannt. Die Schilderungen beschreiben ihre persönlichen Erlebnisse. Das Gesagte können wir nicht abschließend prüfen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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