Armenier-Gesetz Türken über Frankreich erbost
Istanbul "Es gibt eine seit hundert Jahren währende enge Freundschaft zwischen der Türkei und Frankreich. Mit dieser Entscheidung ist Frankreich dabei, die Fundamente dieser Freundschaft zu zerstören". Onur Öymen, türkischer Abgeordneter der oppositionellen Sozialdemokraten, der zusammen mit drei Parlamentskollegen nach Paris gefahren war, ist sichtlich erschüttert.
Bis zuletzt hatte man in der Türkei gehofft, dass die französische Nationalversammlung auf den Beschluss verzichten würde, die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich unter Strafe zu stellen. Doch obwohl auch die französische Regierung vor der Annahme des Gesetzes warnte, stimmten 106 Abgeordnete bei 19 Gegenstimmen der Vorlage zu. Das reichte, da viele Abgeordnete die Abstimmung einfach schwänzten.
Nun wird sich in der Türkei helle Empörung auf den Straßen entladen. Bereits in den letzten Tagen hatten Anhänger der ultrarechten MHP demonstriert, in den kommenden Tagen wird wohl der Volkszorn gegen Frankreich einen Höhepunkt erleben. Die meisten Türken begreifen das Gesetz als neuerliche Demütigung und Absage an eine zukünftige türkische EU-Mitgliedschaft.
Selbst wenn im Westen eine breite Mehrheit der Meinung ist, dass die Massaker an den Armeniern in der Endphase des Osmanischen Reiches den Tatbestand des Völkermordes erfüllen, wird man die türkische Bevölkerung durch die Kriminalisierung einer anderslautenden Meinung kaum davon überzeugen können.
Als Ministerpräsident Erdogan im Vorfeld der Entscheidung sagte, "eine Lüge bleibe eine Lüge, auch wenn ein anderes Parlament etwas anderes beschließe", konnte er sicher sein, die breite Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben. Gleichzeitig versuchte er aber noch, die höchsten Wellen der Empörung wieder zu dämpfen. Einen Vorschlag aus seiner Fraktion, quasi im Gegenzug die französischen Verbrechen in Algerien zum Völkermord zu erklären, erteilte er eine klare Absage. Die offizielle Türkei wird zunächst einmal ökonomisch reagieren.
Die Regierung hat angekündigt, ein französisch-türkisches Rüstungsgeschäft zu kippen und französische Firmen vom Bieterverfahren für ein geplantes AKW auszuschließen. Parteien, patriotische Vereinigungen und andere Verbände werden zum Boykott französischer Waren aufrufen, was die französisch-türkische Handelsbilanz noch empfindlicher treffen wird. Angefangen von der französischen Autoindustrie - Renault hat ein großes Werk unweit von Istanbul - bis hin zur Supermarktkette Carrefour, die in der Türkei ganz groß im Geschäft ist, haben französische Firmen eine Menge zu verlieren. Das meinte auch Außenminister Abdullah Gül, der ebenfalls völlig entsetzt in einer ersten Reaktion sagte: "Die Türkei verliert nichts, aber Frankreich verliert die Türkei".
Auch türkische Intellektuelle lehnen das Gesetz ab
Am stärksten betroffen aber sind gerade diejenigen demokratischen Kräfte in der Türkei, die seit Jahren für mehr Meinungsfreiheit kämpfen und schon lange versuchen, die Debatte um die Armenienfrage in die türkische Öffentlichkeit zu tragen. "Wie sollen wir zukünftig gegen Gesetze argumentieren, die uns verbieten über einen Genozid zu reden, wenn Frankreich nun umgekehrt dasselbe tut", sagte Hrant Dink, einer der prominentesten armenischen Intellektuellen in Istanbul. "Das ist völlig irrational".
Dink, Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitung "Agos", hat sich in den letzten Jahren immer wieder für eine offene Debatte über die Verbrechen an den Armeniern in der Schlussphase des Osmanischen Reiches eingesetzt. Zusammen mit anderen türkischen und türkisch-armenischen Intellektuellen organisierte er im letzten Jahr einen Kongress zu Armenischen Frage in Istanbul, bei dem erstmals in aller Öffentlichkeit die offizielle türkische Geschichtsschreibung in Frage gestellt wurde. "Wenn das Gesetz in Kraft ist, werde ich der erste sein, der nach Paris fährt, um dagegen zu verstoßen", kündigte Dink an.
Er wird aber wohl nicht der einzige sein. Der frühere Maoist und heutige Führer einer nationalistischen Sekte, Dogu Perinçek, wird sich die Gelegenheit, in Frankreich für Aufruhr zu sorgen, keinesfalls entgehen lassen. Er hat letztes Jahr bereits einen Marsch in Berlin organisiert, um die Türken in Deutschland gegen die "Völkermordlüge" zu mobilisieren und sich in der Schweiz, in der die Leugnung des armenischen Völkermords schon jetzt unter Strafe steht, bereits erfolgreich und propagandawirksam festnehmen lassen. Der schweizerische Justizminister Blocher gestand bei einem Besuch in der Türkei vor zwei Wochen, dass ihm das Gesetz erhebliche Kopfschmerzen bereitet.
Unterdessen sieht die armenische Minderheit in der Türkei den kommenden Wochen mit bösen Ahnungen entgegen. Der armenische Patriarch in Istanbul, Mesrop Mutafyan, hat das Gesetze als schädlich für jeden Dialog und den Versuch, wechselseitiges Verständnis zu etablieren, bezeichnet. Nachdem in den letzten Jahren vor allem in Istanbul Armenier, aber auch Griechen als christliche Minderheiten wieder positiv wahrgenommen worden waren, droht nun ein völliger Rückschlag.
Das gilt auch für die Beziehungen zu dem Nachbarstaat Armenien. Die im letzten Jahr begonnenen informellen Gespräche zwischen der Türkei und Armenien, in denen auf Bürokratenebene Möglichkeiten zur Normalisierung der Beziehungen ausgelotet werden sollen, werden wohl abgebrochen werden. Türkische Nationalisten fordern schon jetzt, rund 70.000 Armenier, die in der Türkei illegal arbeiten und die von der türkischen Regierung bislang stillschweigend geduldet werden, nun umgehend auszuweisen.