Armutsmigration Cameron setzt im Kampf gegen EU-Ausländer auf Deutschland

Erst will Großbritanniens Premier Cameron gegen arbeitslose EU-Ausländer vorgehen, jetzt plant auch Deutschland befristete Einschränkungen. Die Brüsseler Kommission ist entsetzt, selbst konservative Europa-Politiker warnen vor Rechtspopulismus.
Cameron: "Die Freizügigkeit innerhalb der EU muss weniger frei sein"

Cameron: "Die Freizügigkeit innerhalb der EU muss weniger frei sein"

Foto: Lindsey Parnaby/ picture alliance / dpa

London/Berlin - "Die Freizügigkeit innerhalb der EU muss weniger frei sein." Das forderte der britische Premierminister David Cameron diese Woche in einem Gastbeitrag für die "Financial Times". Detailliert listete er auf, wie Großbritannien den Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger einschränken wolle. Der Angriff auf eines der populärsten Grundrechte sorgte für Empörung quer durch Europa. Doch Cameron verteidigte sich, er sei nicht allein. Deutschland, Österreich und die Niederlande teilten seine Auffassung.

Tatsächlich hatten die vier Länder bereits im April in einem gemeinsamen Brief die Belastung ihrer Sozialsysteme durch Migranten beklagt und die EU-Kommission aufgefordert, Abhilfe zu schaffen. Auch im neuen Koalitionsvertrag hat die CSU unter der Überschrift "Armutswanderung innerhalb der EU" mehrere migrationskritische Passagen durchgesetzt. Nationales und Europarecht müssten so geändert werden, "dass Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme verringert werden", heißt es auf Seite 108. Dafür sei unter anderem "die Ermöglichung von befristeten Wiedereinreisesperren" notwendig. Auch Leistungsausschlüsse für Arbeitsuchende sollten "präzisiert" werden.

Die Verschärfung der Rhetorik hängt mit einem bevorstehenden Stichtag zusammen: Ab dem 1. Januar gilt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien. Beide Länder sind schon seit 2007 EU-Vollmitglied, doch war der Arbeitsmarktzugang für ihre Bürger bislang in neun EU-Ländern noch beschränkt. Experten gehen davon aus, dass der befürchtete Ansturm ausbleiben wird, weil der größte Teil der Ausreisewilligen längst im Ausland ist. Dennoch sind viele Politiker in Westeuropa nervös. Insbesondere Cameron fürchtet einen Durchmarsch der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip bei der Europawahl im Frühjahr.

"Berechtigte Sorgen und Probleme der Mitgliedstaaten"

Auf der nächsten Sitzung der EU-Innenminister am 5. Dezember wollen Deutschland und Großbritannien deshalb erneut Druck machen. Deutschlands amtierender Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wird anreisen. "Die Kommission ist aufgerufen, in ihrem schriftlichen Abschlussbericht für den bevorstehenden Rat im Dezember auf die berechtigten Sorgen und Probleme der Mitgliedstaaten zu reagieren und echte Lösungsansätze aufzuzeigen", betont ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Aus deutscher Sicht gehe es insbesondere um die Frage, welche Maßnahmen und Sanktionen gegen den "Missbrauch des Freizügigkeitsrechts auf der Grundlage europäischen Rechts" zulässig seien. "Das gilt vor allem für die Verhängung befristeter Wiedereinreisesperren", so der Sprecher zu SPIEGEL ONLINE.

Großbritannien hat viel weiter gehende Pläne: Die Cameron-Regierung will auch Leistungen wie das Kindergeld für EU-Ausländer streichen und über neue Regeln für künftige Beitrittskandidaten reden. Deren Bürger sollten erst Zugang zum EU-Arbeitsmarkt erhalten, wenn die Länder ein gewisses Pro-Kopf-Einkommen erreicht hätten. Aus dem Bundesinnenministerium heißt es dazu: "Einzelne nationale Maßnahmen, die andere Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang ergreifen wollten, kommentieren wir nicht."

Österreich und die Niederlande hingegen scheinen das Thema inzwischen abgehakt zu haben. Österreich sehe derzeit keinen Handlungsbedarf, das Problem Sozialtourismus gebe es im Land nicht, sagte ein Sprecher des Innenministeriums in Wien. Im niederländischen Arbeitsministerium hieß es, man werde sich Camerons Pläne anschauen. Man habe aber derzeit keine eigenen Forderungen an die EU. Die Hauptsorge in Den Haag sei nicht der Sozialleistungsmissbrauch, sondern die Frage, wie man gleiche Löhne für rumänische und bulgarische Migranten sicherstellen könne.

EU-Kommission hält das Problem für aufgebauscht

Die EU-Kommission legte diese Woche als Antwort an die Innenminister einen "Fünf-Punkte-Plan" vor. Sie will ein Handbuch zu Scheinehen herausgeben, die Regeln für den Wohnortstest klarer machen, Online-Training für Kommunalbeamte anbieten und im Februar verschiedene Bürgermeister einladen, um sich über "best practices" auszutauschen. Zudem sollen die Mittel des EU-Sozialfonds genutzt werden, um die Lebensbedingungen in den armen EU-Ländern zu verbessern. Von schärferen Sanktionen gegen Migranten ist keine Rede.

Die Kommission hält das Problem für aufgebauscht. "Kein einziger Mitgliedstaat konnte bislang Beweise vorlegen, dass es Sozialtourismus gibt", sagt ein Sprecher von EU-Sozialkommissar László Andor. Der Anteil der nicht arbeitenden EU-Migranten liege in den meisten Ländern bei unter fünf Prozent. Der Großteil davon seien Studenten und Rentner. Eine Studie des Centre for European Policy Studies kam im September zu dem Schluss, dass Sozialleistungen keine Magnetwirkung auf EU-Migranten ausübten.

Aus Brüsseler Sicht müssen daher keine europäischen Gesetze geändert werden. Schon jetzt erlaubt die EU-Freizügigkeitsrichtlinie den Mitgliedstaaten, im Fall von Sozialleistungsmissbrauch "alle notwendigen Maßnahmen" gegen EU-Ausländer zu ergreifen, inklusive der Ausweisung.

Selbst die Konservativen im Europaparlament halten die britische Kampagne für übertrieben. "Cameron soll aufhören, Ukip nachzulaufen", sagte Manfred Weber (CSU), stellvertretender Fraktionsvorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament. "Durch seine Rhetorik macht er Ukip nur stark." Zuwanderung in Sozialsysteme sei durch EU-Recht ausgeschlossen. Sollte es Vollzugsprobleme geben, müssten zuerst die nationalen Möglichkeiten voll ausgeschöpft werden.

Noch weiter geht EU-Justizkommissarin Viviane Reding. Sie legte den Briten nahe, über einen Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt nachzudenken.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten