Aschura-Fest Bluten für Gott - und gegen die USA
Beirut - Ibrahim sieht aus, als bräuchte er einen Notarzt, dringend. Sein Gesicht ist blutüberströmt, seine ehemals grauen Haare sind eine einzige rot verkrustete Masse. Getrocknetes Blut bröselt von den Wangen, von der Nase tropft es noch. Doch Ibrahim denkt nicht daran, sich an einen der vielen Sanitäter zu wenden. Er blutet freiwillig.
Vor einer Stunde hat Ibrahim den Kopf vorgebeugt, damit ihm ein Moschee-Helfer das Haar teilen konnte. Mit knappen Rasiermesser-Hieben brachte ihm der Mann die Schnitte in der Kopfhaut bei. "Es tut wirklich nicht weh", beteuert der 34-Jährige. "Wir spüren es nicht, weil wir es für Gott tun."
Es ist Samstag, es ist Aschura. Im Iran, im Irak, in allen Ländern, in denen schiitische Muslime leben, gedenken die Gläubigen heute des Todes von Hussein und seinen Gefolgsleuten. Im Libanon haben sich Tausende aus dem ganzen schiitischen Süden des Landes nach Nabatiye aufgemacht, um öffentlich um ihre Helden zu trauern.
Husseins gewaltsamer Tod 680 nach Christus in der irakischen Stadt Kerbala war die Geburtsstunde des Schiitentum. Hussein starb, weil es unter den Gefolgsleuten des Propheten zum Streit darum gekommen war, wer der rechtmäßige Nachfolger Mohammeds sein sollte. Mit 40.000 Mann soll sein Gegenspieler Yazid gegen Hussein und seine 72 Mannen gezogen sein. Der Überlieferung nach richtete die Übermacht ein Blutbad an.
Auch in katholischen Ländern gibt es Selbstgeißelung
Um daran zu erinnern, ritzen sich die Männer von Nabatiye heute die Kopfhaut auf. "Hussein, Hussein", skandieren sie, während sie in Prozessionen durch die Straßen ziehen. Sie schlagen sich rhythmisch auf die Kopfwunden, so dass das Blut auf die Umstehenden spritzt. Auf dem Asphalt der Straße, auf dem Marmorboden der Moschee haben sich Blutseen gebildet.
Nicht jeder ist so standhaft wie Ibrahim: Alle paar Minuten werden Ohnmächtige zu den Sanitätszelten getragen, unter ihnen viele Kinder, deren Körper dem Blutverlust nicht gewachsen sind. Die jüngsten Prozessionsteilnehmer sind fünf, sechs Jahre alt.
Westlichen Beobachtern erscheint das Aschura-Fest auf den ersten Blick sehr fremd, fast abstoßend. Es kostet Anstrengung, sich daran zu erinnern, dass auch bei christlichen Passionsspielen in katholischen Ländern Selbstgeißelung zur Folklore gehört. Hier fließt ebenfalls reichlich Blut.
Jede Aschura-Feier birgt politischen Sprengstoff
Dem Imam bricht die Stimme, als er über die Lautsprecher der Moschee die uralte Geschichte von Husseins Heldentod vorträgt. Sein Mikrofon-verstärktes Schluchzen kulminiert in donnernden Flüchen. "Möge Gott Yazid bis in alle Ewigkeit verdammen", schallt es über die Menge hinweg.
Das genau ist der politische Sprengstoff jeder Aschura-Feier: Yazid ist der Begründer des sunnitischen Zweiges des Islam, von streng gläubigen Sunniten wird er als Held verehrt, weil er Hussein aus dem Weg räumte. Seit er die Schlacht von Kerbala gewann, dominieren die Nachfahren von Yazids Gefolgsleute die islamische Welt. Zwar sind mit dem Irak und dem Iran zwei der großen muslimischen Länder schiitisch geprägt, weltweit machen die Schiiten aber nur etwa zwölf Prozent der Muslime aus.
Der Gedenktag Aschura ist insofern auch eine trotzige Feier der Andersartigkeit, des Selbstbewusstseins der Unterlegenen. Das schiitische Selbstverständnis fußt darauf, dass im Kampf zwischen Recht und Unrecht das Unrecht gewonnen hat und seitdem die Welt beherrscht. Yazid sei ein Symbol für die Unterdrücker, erklärt ein Scheich am Moschee-Eingang.
Die Schiiten fühlen sich benachteiligt
Weltweit seien die Amerikaner der Yazid, regional sei Israel der Übeltäter, der mit dem verhassten Namen bedacht werden muss, sagt Scheich Abbas Huteit, Geistlicher an der Hay El Bayad Moschee in Nabatiye. Auf die Frage, wer im Libanon selbst die Rolle des Unterdrückers einnehme, hat der Scheich ebenfalls eine Antwort. "Wenn die Regierung weiter mit dem Westen und den Imperialisten zusammenarbeitet, dann muss man sie als Yazid ansehen."
Die Schiiten im Libanon fühlen sich benachteiligt, wollen mehr Einfluss. Im religiösen Patchwork des Levantestaats sind sie heute Schätzungen zufolge die größte der 18 staatlich anerkannten Konfessionen. Trotzdem wird ihr politischer Einfluss von einem veralteten Wahlgesetz unterproportional klein gehalten. Seit anderthalb Jahren fordert die von der schiitischen Hisbollah dominierte Opposition mehr politisches Mitspracherecht, die sunnitisch-christliche Regierung verweigert einen Kompromiss.
Es ist ein Stellungskrieg um Einfluss, hinter dem vor allem auch die ausländischen Unterstützer beider Gruppen stehen: Die Regierung wird vom Westen und allen voran von den USA und Frankreich unterstützt, die Opposition erhält Rückendeckung vom Iran und Syrien.
"Ihr seht, mit wem ihr es zu tun bekommt"
"Dieses Jahr ist die Aschura noch politischer als sonst", sagt ein Bäcker, der in einer Seitenstraße gefüllte Teigtaschen verkauft. Die blutüberströmten Gesichter, die religiöse Entfesselung sei eine Warnung: Wir sind hart im Nehmen. "Heute seht ihr, mit wem ihr es zu tun bekommt, solltet ihr uns angreifen", sagt der Bäcker. Das habe auch Scheich Hassan Nasrallah, der geistige Führer der Hisbollah in Beirut gesagt.
Tatsächlich war Nasrallah heute Vormittag zum ersten Mal seit September 2006 wieder öffentlich aufgetreten. Vor Zehntausenden von Anhängern drohte der Hisbollah-Führer bei der Aschura-Feier in Beiruts schiitisch geprägten Vororten Israel Vergeltung für den Fall "neuer Aggressionen" an. "Ich verkünde hiermit, dass unsere Streitkräfte in ständiger Alarmbereitschaft sind und sich jedem möglichen Krieg gegen den Libanon entgegenstellen werden", sagte Nasrallah.
Für Überraschung sorgte Nasrallahs Aussage, die Hisbollah habe Leichenteile mehrerer israelischer Soldaten in ihrem Besitz. Israel habe nach dem Ende seines Krieges mit der Hisbollah im Sommer 2006 "Köpfe, Hände, Füße, einen fast intakten Körper und einen Torso" israelischer Soldaten zurückgelassen, so der Anführer der "Partei Gottes". Mit der makabren Aufzählung wollte Nasrallah zeigen, dass er im Poker um den Austausch von Gefangenen zwischen Israel und der Hisbollah mehr Trümpfe in der Hand hält, als bisher angenommen. In der Vergangenheit hatte Israel mehrere Hundert Gefangene frei gelassen, um im Austausch Gefallene oder Teile ihrer Leichen nach Hause zu holen.