Schutz vor Klimawandel "Undenkbar, dass Deutschland Menschen auf eine sinkende Insel zurückschickt"

Bewohner einer der Inseln von Kiribati sammeln Steine und Korallen, um eine Mauer gegen den Anstieg des Meeresspiegels zu bauen
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Inseln versinken im Meer, Böden trocknen aus, Megastürme zerstören ganze Städte: Der Klimawandel wird wohl dazu führen, dass noch mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Die Frage ist: Wo können sie hin und unter welchen Bedingungen werden sie aufgenommen?
Eine Entscheidung des Uno-Menschenrechtsausschusses hat in dieser Woche für Aufsehen gesorgt. Auf den ersten Blick ging es um das Schicksal von Ioane Teitiota, einem Mann von der Pazifikinsel Kiribati; tatsächlich ging es um noch viel mehr. Verhandelt wurde auch die Frage, ob Staaten Menschen Schutz bieten müssen, wenn sie wegen der Erderwärmung ihre Heimat verlassen.
Der Ausschuss entschied einerseits, dass Neuseeland das Recht hatte, Ioane Teitiota nach Kiribati abzuschieben, obwohl seine Heimat in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren im Meer versinkt. Die Regierung habe ausreichende Schutzmaßnahmen ergriffen, um sein Recht auf Leben zu schützen.
Aber der Ausschuss fügte der Entscheidung mehrere Sätze hinzu, die anschließend um die Welt gingen. Die zentrale Passage:
"Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Auswirkungen des Klimawandels in den Aufnahmestaaten - ohne robuste nationale und internationale Bemühungen - die Menschen einer Verletzung ihrer Rechte nach Artikel 6 oder 7 des Paktes aussetzen können und dadurch das Gebot der Nicht-Rückführung auslösen können."
Das heißt: Unter bestimmten Umständen könnten Klima-Migranten in der Tat Schutz bekommen. Welche das sind, erklärt der Umweltrechtler John Knox.

John Knox, 1963 geboren, ist Professor für Internationales Recht an der Wake Forest University School of Law in North Carolina, USA. Er forscht vor allem an der Schnittstelle von Menschenrechten und Umweltschutz. Bis 2018 war er Uno-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Bezug auf Umweltangelegenheiten.
SPIEGEL: Herr Knox, das Uno-Menschenrechtsbüro hat die Entscheidung des Ausschusses als historisch beschrieben. Ist sie das?
John Knox: Das ist eine historische Entscheidung. Allerdings haben viele sie überinterpretiert. Es stimmt nicht, dass Staaten nun Migranten nicht mehr nach Kiribati oder auf andere Inseln im Pazifik zurückschicken können. Das hat der Ausschuss nicht entschieden.
SPIEGEL: Was hat er genau entschieden?
Knox: Der Ausschuss macht klar, dass Menschenrechte auch für Migranten gelten, die wegen des Klimawandels ihr Land verlassen müssen. Das allein ist schon ein wichtiger Präzedenzfall. Außerdem hat der Ausschuss klargestellt, dass - falls sich die Politik der Weltgemeinschaft nicht ändert - der Klimawandel zu einer Situation führen kann, in der es gegen die Menschenrechte verstoßen würde, Personen in ihre Heimatländer zurückzuschicken.
SPIEGEL: Im zentralen Teil der Entscheidung geht es also um einen hypothetischen Fall.
Knox: Nicht wirklich: Der Menschenrechtsausschuss betont, dass in der Zukunft Fälle von Klima-Migranten anders entschieden werden könnten, wenn nicht robuste nationale und internationale Maßnahmen ergriffen werden.

Kiribati unter Druck: Das kleine Dorf Eita ist bei Flut mittlerweile eine eigene Insel, jedes Jahr steigt das Wasser weiter
Foto: Jonas Gratzer/ LightRocket/ Getty ImagesSPIEGEL: Würden die Menschen, die ihre Heimat wegen der Erderwärmung verlassen müssen, dann gegebenenfalls als Flüchtlinge anerkannt?
Knox: Flüchtling ist in diesem Fall das falsche Wort, weil es im internationalen Recht sehr genau definiert ist. Flüchtlinge sind Menschen, die in ihrer Heimat aus spezifischen Gründen verfolgt werden; zum Beispiel weil sie einer Minderheit angehören oder weil sie politisch aktiv sind. Es ist schwer vorstellbar, wie Klima-Migranten diese Definition je erfüllen können. Hier geht es eher um internationalen Schutz, eine ähnliche juristische Kategorie. Der Ausschuss hat entschieden, dass selbst Menschen, die nicht als Flüchtlinge gelten, das Recht haben könnten, nicht in ihre Heimatländer zurückgeschickt zu werden. Jedenfalls sobald ein erhebliches Risiko besteht, dass dort ihr Leben in Gefahr wäre.
SPIEGEL: Ist die Entscheidung des Menschenrechtsausschusses bindend?
Knox: Der Ausschuss ist kein internationales Gericht wie der Internationale Gerichtshof in Den Haag oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die Entscheidungen des Uno-Menschenrechtsausschusses sind völkerrechtlich daher nicht bindend.
Die Entscheidung hat aber aus mehreren Gründen rechtliche Bedeutung: Erstens haben die Regierungen die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses eigens damit beauftragt, die Einhaltung und Auslegung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte zu überwachen. Ihre Meinung zählt also mehr als die eines beliebigen Experten. Einige Länder haben sich sogar rechtlich verpflichtet, die Entscheidung des Ausschusses in ihrer nationalen Gesetzgebung zu berücksichtigen.
Zweitens beeinflussen solche Entscheidungen in der Regel auch die Rechtssprechung in internationalen und nationalen Gerichten - und deren Entscheidung wäre dann wiederum bindend. Es ist denkbar, dass der Europäische Menschengerichtshof bald zu einem ähnlichen Ergebnis kommt wie der Ausschuss im aktuellen Fall.
SPIEGEL: Die Entscheidung des Uno-Menschenrechtsausschusses könnte also die erste von vielen sein?
Knox: Genau. Sie könnte sogar ein Signal dafür sein, dass sich gerade ein internationaler Konsens herausbildet, wie mit solchen Fällen menschenrechtskonform umgegangen werden kann. Das wäre sehr bedeutsam. Ich beobachte jedenfalls, dass nationale und internationale Gerichte es zunehmend ernst nehmen, wenn sich Anwälte auf die Menschenrechte von Klima-Migranten berufen. Klimaklagen auf der Grundlage der Menschenrechte sind auch vor vielen europäischen Gerichten anhängig.

Klagte vergebens: Ioane Teitiota
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SPIEGEL: Die deutsche Regierung hat bereits zu verstehen gegeben, Klima-Migranten kein Asyl gewähren zu wollen. Unter anderem, weil die Erderwärmung in der Regel nur einer von mehreren Gründen sei, aus denen Menschen ihr Land verlassen würden.
Knox: Viele Experten betonen, dass der Klimawandel nicht der einzige Auswanderungsgrund ist. Aber er verstärkt andere Faktoren. Wahrscheinlich glauben viele Regierungen, dass sie Klima-Migranten keine Zuflucht bieten müssen. Die Entscheidung des Ausschusses weist auch Deutschland deutlich darauf hin, dass sich das schon bald ändern kann.
Ganz praktisch gedacht: Wenn Kiribati in zehn, fünfzehn Jahren unbewohnbar ist, bringt Deutschland dann wirklich Migranten dahin zurück? Wie soll das denn funktionieren: Schickt Deutschland ein Schiff und lässt Menschen auf einer sinkenden Insel zurück - was ihr sicherer Tod wäre? Das ist doch undenkbar.
SPIEGEL: Der Chef des Uno-Flüchtlingshilfswerks, Filippo Grandi, sprach sich im SPIEGEL-Interview dagegen aus, die Flüchtlingskonvention auf Klima-Migranten auszudehnen, aus Angst, dass der Flüchtlingsschutz im jetzigen politischen Klima dann erodieren würde. Stimmen Sie zu?
Knox: Ja, die Überlegung ist nachvollziehbar. Aber wir können diese Menschen trotzdem schützen. Die Entscheidung des Uno-Menschenrechtsausschusses ist ein Beispiel dafür, wie uns das gelingen kann, ohne sie alle zu Flüchtlingen zu erklären.
SPIEGEL: Laut UNHCR-Chef Grandi reden wir von Millionen Leuten. Die Staaten müssten sich auf sie vorbereiten, forderte er nach Bekanntgabe der Entscheidung.
Knox: Hunderte Millionen Menschen leben in gefährdeten Küstenregionen. Aber die meisten dieser Menschen werden innerhalb ihrer eigenen Länder vertrieben werden. Das wird zwar auch ein riesiges Problem, aber der Fall von Ioane Teitiota war ein extremer.
Es geht um eine Insel, die schlicht unbewohnbar werden wird. Viele dieser kleinen Inseln haben eine recht kleine Bevölkerung. Panik ist nicht angebracht. Die Entscheidung sollte als Ermunterung aufgefasst werden, etwas gegen den Klimawandel zu tun - und besonders gefährdete Länder so gut es geht gegen die Auswirkungen zu schützen.
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