Atomwaffen-Terror Auf der Suche nach der verlorenen Bombe

Sollten Terroristen die technischen Fähigkeiten zum Atombombenbau erlangen, hätte der Westen ein Problem. Waffenfähiges Uran ist offenbar überall im Angebot - auf orientalischen Basaren in Form loser Klumpen oder in Mini-Atombomben, die zu Dutzenden aus der ehemaligen Sowjetunion verschwunden sind.
Von Erich Wiedemann

Das State Department in Washington hat 130 Terrororganisationen registriert, denen sie die Herstellung und den Einsatz von A-Waffen zutraut. Tabellenführer ist Osama Bin Ladens Assassinen-Orden al-Qaida. "Alle Warnindikatoren sind positiv", sagt Roger Hagengruber, der Vizepräsident des Atomforschungszentrums Sandia: Geld, Fanatismus, Menschenverachtung. Was Bin Laden offenbar noch fehlt, das ist ein passender Dr. Seltsam, der seinen Hass in Kilotonnen-Sprengkraft umsetzt.

Die Gerüchte, al-Qaida habe in Afghanistan an der Entwicklung der A-Bombe gearbeitet, werden freilich durch die Beweislage nicht gestützt. Die von der Londoner "Times" in Kabul ausgegrabenen "Konstruktionsunterlagen" stammten aus einer alten Satirezeitschrift, wie sich später herausstellte. Die "Times" hat den Ulk nicht bemerkt, obwohl die Autoren ziemlich dick aufgetragen hatten. In dem Originalartikel wurde auch darauf hingewiesen, dass man das Plutonium in einer Thermoskanne in der Garage verwahren solle, damit es schön kühl bleibt.

Bin Laden bemüht sich um nukleare Höllenmaschine

Auch Atomforscher Hagengruber hält es für unwahrscheinlich, dass al-Qaida schon eine nukleare Höllenmaschine hat. Aber er hätte es bis letzten Herbst für noch unwahrscheinlicher gehalten, dass eine Gruppe von Terroristen in einer halben Stunde beide Türme des World Trade Center zum Einsturz bringen könnte.

Osama Bin Laden bemüht sich seit Anfang der neunziger Jahre um die Bombe. Der Doppelagent Jamal Ahmad al-Fadl verhandelte Anfang 1994 in Bin Ladens Auftrag in der sudanesischen Hauptstadt Khartum über den Kauf von hoch angereichertem Uran aus Südafrika. Der Preis: 1,5 Millionen US-Dollar, zuzüglich Provision für al-Fadl und für Ex-Minister und Oberstleutnant Mokadem Salah Abd-el-Mobruk, der den Kontakt vermittelt hatte.

Doppelagent sprach von Uran-Handel

Es muss sich um eine große Menge Uran gehandelt haben. Al-Fadl erhielt, nachdem er ein paar weitere Mittelsmänner getroffen hatte, ein Honorar von 10.000 Dollar und wurde dann entlassen. Er erfuhr nur noch, dass seine Auftraggeber einen Metallzylinder voll Uran erhalten hatten und dass sie mit Hilfe einer "elektrischen Maschine" aus Kenia testen wollten, ob es für den vorbestimmten Zweck geeignet war.

Jamal Ahmad al-Fadl wurde 1996 in der US-Botschaft in Khartum festgenommen. Im Februar vergangenen Jahres verurteilte ihn ein Gericht in New York wegen seiner Beteiligung an den Attentaten auf die US-Botschaften in Nairobi (Kenia) und Daressalam (Tansania) zu lebenslanger Haft.

Kontakte zu Pakistans Atomwirtschaft

Al-Fadls Aussage muss allerdings unter dem Vorbehalt gewertet werden, dass er ein mehrfach vorbestrafter Betrüger und Bigamist ist. Und was auch nicht ganz unwichtig ist: Die US-Regierung hatte es sich 945.000 Dollar kosten lassen, al-Fadl vor al-Qaida zu schützen. Die Aussage eines so teuren Zeugen durfte sich natürlich nicht in Belanglosigkeiten erschöpfen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Amerikaner al-Fadls Aussage fingierten, um Osama Bin Ladens Schurkenrolle zu untermauern, nachdem sie den Nachweis schuldig geblieben waren, dass der die Anschläge in Nairobi und Daressalam mit insgesamt 224 Toten angezettelt hatte. Dass Bin Laden wirklich kriminelles Spitzenformat hatte, konnte man damals noch nicht wissen. Das zeigte sich erst ein halbes Jahr später, am 11. September.

Bin Laden hatte auch gute Kontakte zur pakistanischen Atomwirtschaft. Zu seinem Freundeskreis gehörten Qadir Khan, der "Vater der islamischen Bombe", und Sultan Bashiruddin Mahmud, der Erbauer der Nuklearfabrik Kahuta bei Islamabad. Beide erklärte Yankee-Feinde, beide Islamisten der alten Schule.

Mahmud machte jedes Jahr ein paar Mal Ferien bei den Taliban in Kabul und Kandahar. Es ist nicht verbürgt, dass er Bin Laden dort getroffen hat. Doch er hätte ihm schon aus dem Weg gehen müssen, um ihn nicht zu treffen.

Uran auf dem Basar

In Bin Ladens Wahlheimat Afghanistan wurde der Stoff im Basar gehandelt. Robert Puffer, ein kauziger amerikanischer Antiquitätenhändler, der bis 1998 in Kabul einen Laden hatte, sagt, die Schwarzhändler hätten "Yellowcake" (Uran) in ihren Brusttaschen mit sich herumgetragen. "Ich habe ihnen gesagt, ihr seid verrückt. Das Zeug ist gefährlich." Aber das habe sie nicht gestört.

In Peschawar auf der pakistanischen Seite der Grenze wurde strahlendes Material in großen Kanistern mit kyrillischen Schriftzeichen gehandelt. Der Stoff kam aus den ehemaligen zentralasiatischen und kaukasischen Sowjetrepubliken. Der Kaufmann Latif Afridi berichtete dem Londoner "Observer", Ende August vergangenen Jahres sei ihm in Almaty in Kasachstan Uran in Bleikanistern angeboten worden.

Russlands verlorene Aktentaschenbomben

Das in London erscheinende Nachrichtenmagazin "Al Watan al Arabi" will wissen, dass Osama Bin Laden 1998 einem Schwarzhändler aus Tschetschenien 30 Millionen US-Dollar in bar und Opium im Wert von 70 Millionen übergeben und dafür einen Posten Atomsprengköpfe erhalten hat.

"Al Watan Al Arabi" gilt nicht als Spitzenquelle. Es ist aber denkbar, dass Bin Laden eine oder mehrere von jenen "Aktentaschenbomben" ergattert hat, die seit Jahren durch die Gazetten klabautern. Aktentaschenbomben wurden in den achtziger Jahren für den sowjetischen Geheimdienst KGB gebaut. Sie passten in einen gewöhnlichen Reisekoffer oder einen Rucksack und hatten eine Sprengkraft von je tausend Tonnen herkömmlichem Sprengstoff.

Codes sichern "Mini-Nukes"

Die Mini-Nukes wären aber, selbst wenn sie in falsche Hände geraten, nicht direkt bedrohlich. Ihre Iridium-Zünder sind vermutlich verrottet. Und auch mit einem intakten Zünder ist die Bombe zunächst wertlos. Man muss den Code kennen, um sie hochgehen zu lassen. Alle sowjetischen Atombomben sind so gesichert. Ohne Passwort kann man keine Bombe zünden. Und die Passwörter werden niemals gemeinsam mit der Bombe aufbewahrt.

Das heißt: Osama Bin Laden sitzt womöglich auf einem Arsenal von Atombomben, kann sie aber nicht gebrauchen, weil er die Codes nicht kennt. Er kann höchstens versuchen, die Bomben ausschlachten und neue, einfachere Bomben daraus zu bauen zu lassen.

Der Mythos der Aktentaschenbomben geht zurück auf eine Erklärung von General Alexander Lebed, dem ehemaligen Sicherheitsberater von Präsident Boris Jelzin. Er erzählte im Mai 1997 einer Delegation des US-Kongresses, dem sowjetischen Militär seien über die Jahre 48 der 132 Kompaktbomben vom Typ RA-115 und RA-115-01 abhanden gekommen. Er wisse nicht, ob sie verkauft, gestohlen oder zerstört worden seien. Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin reagierte auf Lebeds Äußerungen mit einem Wutanfall. Das sei alles "absoluter Unsinn." Die russischen Streitkräfte hätten ihre Atomwaffen unter Kontrolle.

Die Regierung in Washington beeilte sich, Tschernomyrdin mit seiner Erklärung des Inhalts beizuspringen, solche Infamien habe es nie gegeben. Tatsache ist: Es hat sie auf beiden Seiten gegeben. Wie das kalifornische Atomforschungszentrum Los Alamos bestätigt, entwickelten auch die Amerikaner gegen Ende des Kalten Krieges Klein-Atombomben, die im Ernstfall hinter den feindlichen Linien platziert werden sollten.

Kleinbomben könnten in die USA gelangt sein

Alexej Jablokow, ehemals Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat Russlands und heute Professor an der Akademie der Wissenschaften, hat Lebed in einem Leserbrief an die Moskauer "Nowaja Gasjeta" bestätigt. Jablokow vermutet, dass die Aktentaschenbomben versehentlich wohl nicht registriert und deshalb irgendwie verdaddelt worden seien.

Dazu passt auch die Aussage, die ein hochrangiger Überläufer des russischen Geheimdienstes GRU Anfang August 1998 vor dem US-Kongress machte. Als Washington-Korrespondent der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass getarnt, hatte er in den Jahren 1988 bis 1992 in amerikanischen Ballungszentren Verstecke ausgekundschaftet, in denen man kleinere Atomsprengköpfe deponieren konnte.

USA zu groß für Schutz gegen Schmuggel

Ob von den Mini-Nukes in den USA tatsächlich welche in Stellung gebracht wurden, ist nicht bekannt. General Alexander Lebed erklärte Anfang Januar, kurz bevor er bei einem Hubschrauberabsturz starb, dem SPIEGEL, er habe von seiner Warnung nichts zurückzunehmen. Mehr sagte er dazu allerdings nicht. Das Thema ist tabu. Es wäre nicht gut für künftige Abrüstungsverhandlungen, wenn herauskäme, dass über ein paar hundert Atomsprengköpfe nicht verhandelt werden kann, weil sie verschwunden sind.

Die Kuriere, die die Aktentaschenbomben in die USA bringen sollten, so sagte der falsche Tass-Mann, seien angewiesen gewesen, die klassischen Routen der Drogenschmuggler zu benutzen. Und zwar mit Lieferwagen, Flugzeugen und Schnellbooten.

Das ist eine simple, aber relativ sichere Methode. Die Vereinigten Staaten sind einfach zu groß, um sich zuverlässig gegen Schmuggel zu schützen. Nur jedes zwanzigste Auto, das über die Grenzen von Mexiko und Kanada kommt, wird überhaupt inspiziert.

Auch die 361 amerikanischen Überseehäfen, in denen 95 Prozent der Im- und Exportwaren umgeschlagen werden, sind unkontrollierbar. Die Container, in denen das Stückgut angeliefert wird, sind zweieinhalb mal zweieinhalb mal zwölf Meter groß. Und von diesen stählernen Kingsize-Behältern werden in der Stunde ein paar tausend Stück in den USA angeliefert - Tag und Nacht. Der US-Außenhandel würde zusammenbrechen, wenn sie alle durchsucht werden müssten. Und Entsprechendes gilt für die europäischen Verbündeten der USA.

Lesen Sie am Montag im dritten Teil: Die entfesselte Bedrohung - wie die USA und Russland die Geister bannen wollen, die sie riefen

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