Aufstand gegen Erdogan Türkischer Frühling
Der Aufstand von Istanbul hat viele Gesichter: Ein Mädchen wird vom harten Strahl der Wasserwerfer getroffen, junge Männer mit Guy-Fawkes-Masken tanzen vor brennenden Barrikaden, Zehntausende Demonstranten ziehen friedlich über die Bosporus-Brücke und fordern den Rücktritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Längst beschränken sich die Proteste nicht mehr nur auf Istanbul. In Ankara, Izmir und vielen anderen türkischen Städten gehen die Bürger auf die Straße. Was als lokale Kampagne gegen den Abriss des Gezi-Parks am Taksim-Platz in Istanbul begann, hat sich ausgeweitet zu einer landesweiten Revolte gegen die Regierung Erdogan. In Berlin und Paris versammeln sich Menschen zu Solidaritätskundgebungen. Die Alevitische Gemeinde hat für Samstagnachmittag zu einem Protestmarsch in Köln aufgerufen. Noch nie in seiner zehnjährigen Amtszeit sah sich Premier Erdogan einem vergleichbaren Widerstand ausgesetzt.

Protest gegen Erdogan: Heftige Proteste erschüttern die Türkei
"Wir erleben hier kein türkisches Stuttgart 21", sagt ein deutscher Doktorand, der gerade für eine Exkursion in Istanbul angekommen ist: Die Proteste lassen ihn und seine Freunde eher an den Tahrir-Platz in Kairo denken. Auch damals standen die Bürger gegen einen autoritären Machthaber, den ägyptischen Diktator Mubarak, auf. Linke Politiker und andere Oppositionelle hoffen bereits auf einen "türkischen Frühling".
Tränengas aus Hubschraubern
Der Doktorand will seinen Namen nicht veröffentlicht sehen, vor allem aus Angst um seine Freunde und Bekannten in der Türkei. Aber seine persönlichen Angaben lassen sich überprüfen und die Beobachtungen, die er schildert, decken sich mit denen anderer Augenzeugen, mit denen SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE gesprochen haben. In der Nacht von Freitag auf Samstag beobachtete er, wie die Wasserwerfer die Demonstranten selbst dann noch beschossen, als sie sich bereits auf das Gelände des Deutschen Krankenhauses in der Nähe des Taksim-Platzes zurückgezogen hatten. Er sah Verwundete, zum Teil mit schweren Kopfverletzungen, und er sah Bewusstlose. Immer wieder drängen Polizisten die Demonstranten zurück, beschießen sie aus nächster Nähe und aus Hubschraubern mit Tränengas, knüppeln sie nieder.
Taksim ist nicht Tahrir, die Situation in der Türkei ist eine fundamental andere als 2011 in Ägypten. Erdogan wurde gerade erst mit überwältigender Mehrheit im Amt bestätigt. Viele Türken verehren ihn dafür, dass er das Land erneuert, die Wirtschaft gestärkt hat. Er hat die Macht des Militärs beschnitten und den Konflikt mit den Kurden entschärft. Selbst Kritiker halten ihn für den einflussreichsten Regierungschef seit Staatsgründer Atatürk.
Doch gleichzeitig hat sich in der Türkei in den vergangenen Jahren eine gewaltige Wut angestaut. Sie hat vor allem mit zwei Dingen zu tun: mit Geld und Macht.
Protest gegen Erdogans Turbo-Kapitalismus
Erdogans Regierung verfolgt einen Turbokapitalismus, der die Kluft zwischen Arm und Reich in der Türkei vergrößert hat und Schwache gnadenlos zurücklässt. Der Premier will den Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre weiterbefeuern - auch mit megalomanischen Bauvorhaben. Immer neue Hochhäuser lässt er errichten, etwa den "Saphir von Istanbul", das höchste Gebäude der Türkei, 261 Meter misst es vom Boden bis zur Antennenspitze. Ein Schnellbahnnetz soll sich bald durch die Türkei ziehen, eine dritte Brücke über den Bosporus spannen, ein neuer Flughafen noch mehr Touristen und Geschäftsleute in die Stadt holen.
Durchgesetzt werden Bauvorhaben autoritär, ausführliche Mitsprache der Betroffenen ist nicht vorgesehen. Ein Gesetz erlaubt es den Behörden, ganze Viertel abzureißen, wenn es einem höheren städtebaulichen Interesse dient - und sie machen Gebrauch davon. Vor wenigen Jahren traf es Istanbuls historisches Roma-Viertel Sulukule. Bulldozer rückten an und begannen, Platz zu schaffen für den Aufschwung, ähnlich lief es ab im Viertel Tarlabasi. Gentrifizierung, das ist in Istanbul kein schleichender Prozess, es sind Modernisierungsattacken, geplante Operationen, notfalls durchgesetzt von Polizisten.
Despotismus ist ein weiteres Markenzeichen der Regierung Erdogan. Der Ministerpräsident führt Prozesse gegen Hunderte Bürger, angeblich weil sie ihn beleidigt haben. Er hat einen Karikaturisten verklagt, der ihn als Katze gezeichnet hatte. Ebenso Anhänger des Fußballclubs Galatasaray, die buhten, als der Premier im Stadion erschien. Und Straßenmusiker, die auf einem Festival den "Tayyip Blues" sangen. Unter Erdogan ist die Türkei im Index für Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen auf Rang 138 abgesackt und liegt nun hinter Ländern wie dem Irak. In der Türkei sitzen mehr Journalisten im Gefängnis als in China.
"Kaputtes Land, korrupte Politik"
In den türkischen Medien war demnach zunächst wenig über die Proteste zu erfahren. Fernsehsender und Zeitungen wurden in den vergangenen Jahren weitgehend gleichgeschaltet. CNN Türk, einer der wichtigsten Nachrichtenkanäle des Landes, sendet eine Dokumentation über Frauen am Arbeitsplatz, während am Taksim-Platz die Auseinandersetzung eskaliert.
Die Bilder des Aufstands verbreiten sich trotzdem: über Twitter, Facebook, Blogs. "Kaputtes Land, korrupte Politik, islamistischer Kapitalismus", schreibt ein User. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu hat die Regierung aufgefordert, die Polizei unverzüglich abzuziehen.
Premier Erdogan sagt, ihm sei egal, was die Demonstranten fordern. Er denunziert sie als "Extremisten". Doch die Bilder dieser Tage wird er nicht wieder loswerden. Sie werden ihn bis ans Ende seiner Karriere verfolgen. Er kann einen dritten Flughafen bauen oder einen zweiten Bosporus. Er kann die Olympischen Spiele nach Istanbul holen und sich im kommenden Jahr nach elf Jahren als Premier zum Staatspräsidenten küren lassen. An die Tage, als seine Polizisten friedliche Demonstranten niederknüppelten, werden sich die Menschen in der Türkei erinnern.