Auftritt vor EU-Parlament Orbán attackiert Kritiker

Ungarns Regierungschef Viktor Orbán in Straßburg: "Absurde Wut"
Foto: Patrick Seeger/ dpaEigentlich hatte er sich am Mittwoch in Straßburg der Kritik der EU-Kommission und des Europa-Parlaments in einer ernsthaften und ehrlichen Debatte stellen wollen. So wenigstens lautete Viktor Orbáns Ankündigung. Es sollte um den Abbau demokratischer Freiheiten in Ungarn gehen, um die Aushöhlung des Rechtsstaats. Doch nachdem der ungarische Regierungschef am Anfang seiner Rede noch Kompromissbereitschaft signalisiert hatte, gab er sich am Ende kampfeslustig, rechthaberisch und unversöhnlich. Seinen Kritikern warf er "absurde Wut" vor, so etwas sei "Europa nicht würdig". Er verteidigte den "Geist des Christentums und der Familie" gegen "die Mehrheit im Europa-Parlament". Und schließlich rief er den Abgeordneten in Straßburg zu: "In seiner tausendjährigen Geschichte war Ungarn immer das Land der Freiheitskämpfer, das wird es auch bleiben, und dafür fordern wir Respekt."
Die EU-Kommission hatte gegen Ungarn gleich drei Verfahren wegen Bruchs des EU-Rechts eröffnet. Nach ihrer Befürchtung ist die Unabhängigkeit der Zentralbank, der Datenschutzbehörde und im Justizbereich von staatlichem Einfluss nicht gesichert. Und sie schickte einen weiteren Mahnbrief nach Budapest. "Die Probleme können leicht und rasch gelöst werden", sagte Orbán jetzt zu den Abgeordneten. Er wolle einen Schritt auf die EU-Kommission zugehen und sei bereit, über die von der Kommission verlangten Gesetzesänderungen zu sprechen, kündigte er an.
Der Auftritt, den der ungarische Regierungschef dabei hinlegte, fand nahezu identisch vor nahezu exakt einem Jahr statt, am 19. Januar 2011. Damals ging es um das gerade verabschiedete ungarische Mediengesetz, durch das die Pressefreiheit vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien des Landes eingeschränkt wurde. Auch hier zeigte sich Orbán am Anfang der Debatte kompromissbereit, aber dann hagelte es Vorwürfe gegen die Abgeordneten. Ein Auftritt, der damals vor allem für die heimische Öffentlichkeit bestimmt war, Motto: Ein Mann steht ein für sein Land! An diesem Mittwoch drückte Orbán es in Straßburg so aus: "Ich nehme das Kreuzfeuer der Kritik auf mich."
Orbáns Rückhalt im Land schwindet zunehmend
Orbán kann mehr Popularität zuhause dringend brauchen. In Umfragen sinken die Popularität seiner Regierung und seiner Fidesz-Partei ("Bund Junger Demokraten") rapide, Ungarn ist einer wirtschaftlich und sozial äußerst schwierigen Situation - dem Land droht die Zahlungsunfähigkeit, wenn es nicht umfangreiche Kredite bekommt. "Deshalb betonen Orbán, die Regierung und seine Partei derzeit nach außen ständig ihre Verhandlungsbereitschaft", sagt József Debreczeni, Ungarn prominentester Publizist und Autor zweier Orbán-Biografien. "Ihnen ist bewusst, dass die Staatspleite droht und sie mit der EU und dem IWF zu einer Übereinkunft kommen müssen. Anderseits führen sie im Inland die 'freiheitskämpferische' Rhetorik fort."
Es ist fraglich, wie lange sich die Ungarn noch damit abspeisen lassen. Nicht nur äußern sich in Umfragen immer mehr Menschen unzufrieden mit der Lage im Land. Auch politische Weggefährten Orbáns wie der Ex-Nationalbankpräsident Zsigmond Járai haben sich zu Kritikern des magyarischen Regierungschefs gewandelt. Doch nicht nur das: Selbst ein großer Teil der ungarischen Unternehmerschaft ist zunehmend verärgert über die Entwicklung im Land.
Ferenc Rolek, Vizepräsident des Landesverbandes der Arbeitgeber und Industriellen (MGYOSZ) wünscht sich einen "Richtungswechsel" in der ungarischen Politik. Damit meint er: Auf internationaler wie nationaler Ebene sind intensivere Abstimmungen, die Herausbildung partnerschaftlicher Kontakte und deren Pflege von Nöten. "Wir müssen die Berechenbarkeit wiederherstellen, sowohl für uns ungarische Unternehmer als auch für unsere Partner im Ausland." Der MGYOSZ drängte bereits am Montag in einer öffentlichen Erklärung darauf, dass Ungarn sich schnell mit der EU und dem IWF einigen solle.
Eine bemerkenswerte Kritik, immerhin zählen die ungarischen Unternehmer zur Hauptklientel von Orbáns Partei. Während der sozialistisch-liberalen Koalitionsregierung von 2002 bis 2010 klagten ungarische Firmenchefs vielfach darüber, dass ausländische Großunternehmen und Banken in Ungarn bevorzugt werden würden. Eines der vorrangigen Ziele von Orbán und seiner Partei war daher die Stärkung der einheimischen Unternehmer.
"Es werden keine besseren, sondern noch schlechtere Tage kommen"
Doch vielen geht der jetzige Kurs anscheinend zu weit. "Die meisten ungarischen Unternehmer sind verunsichert, weil sie nicht wissen, wie sich die finanzielle Lage des Landes entwickelt", sagt Ferenc Dávid, der Sekretär des Unternehmerverbandes VOSZ. "Wir brauchen Korrekturen in der Wirtschaftspolitik und mehr Vertrauen." Dass solche Korrekturen kommen werden, bezweifeln viele Beobachter im Land freilich. "Orbán wird es nicht zulassen, dass irgend jemand die Stützpfeiler seines Machtgebäudes einreißt", sagt der Publizist József Debreczeni, "das ist für ihn inakzeptabel".
Auch der Wirtschaftswissenschaftler László Lengyel sieht das so. Schon zwei Tage vor Orbáns Auftritt am Mittwoch in Straßburg schrieb er in einem Essay: "Sind wir schon ganz unten? Gibt es Hoffnung? Könnte ich doch sagen: Ja! Aber es werden keine besseren, sondern noch schlechtere Tage kommen. Orbán und seine Ordnung werden bis zum letzten Atemzug um sich schlagen."