Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Die Mär vom irren Iwan

Überraschung! Die Deutschen haben ihren eigenen Kopf. In der Krim-Krise servieren Journalisten und Politiker die Geschichte vom kraftstrotzenden Russen, der Völkerrecht bricht. Aber die Leute wissen: Die Wahrheit ist komplizierter.
Kreml in Moskau (Archivbild): Alleinschuld für Eskalation bei Russland?

Kreml in Moskau (Archivbild): Alleinschuld für Eskalation bei Russland?

Foto: Yuri Kochetkov/ dpa

Eigentlich war schon alles klar: Russland handelt "aus Schwäche" (Obama), Putin ist ein "Verlierer" (SPIEGEL ONLINE), er lebt in einer "anderen Welt" (Merkel), der Westen muss ihm "Grenzen setzen" ("Frankfurter Allgemeine"). Schon lange waren sich Machthaber und Medien im Westen nicht mehr so einig wie in der Krim-Krise: Der irre Iwan bricht das Völkerrecht, und wir müssen alle fest zusammenstehen.

Und dann die Überraschung: Die Deutschen haben ihren eigenen Kopf. Fast alle Umfragen belegen: Die meisten Leute glauben nicht an die Mär von der russischen Alleinschuld an der Eskalation in der Ukraine. Angela Merkel sollte das ernst nehmen: In Fragen von Krieg und Frieden darf die Kanzlerin keine Politik gegen das eigene Volk machen.

Hat Merkel damit gerechnet? Immer lauter wird die Kritik an der unversöhnlichen Russlandpolitik der ostdeutschen Kanzlerin. Die Umfragen belegen schon seit mehreren Tagen, dass die Menschen die neue Konfrontation mit Moskau für falsch halten. Andererseits: Was zählt das Volk? "Die Leute sollen uns Politiker die Politik machen lassen, weil wir so viel mehr davon verstehen", hat Angela Merkel einmal gesagt. So einfach wird sie es sich diesmal nicht machen können.

Jetzt melden sich prominente Kritiker zu Wort - auch solche, die allerhand "davon verstehen." Von Helmut Schmidt über Gerhard Schröder, von Alexander Gauland bis Alice Schwarzer, von Gregor Gysi bis Klaus von Dohnanyi - diese Leute haben sonst wenig gemeinsam, jetzt eint sie die Skepsis gegenüber einer westlichen Politik, die mit Schuldzuweisungen allzu schnell bei der Hand ist (mehr dazu im neuen SPIEGEL).

Im Angesicht eines angenommenen Feindes lernen wir gerade den Unterschied zwischen einem freien und einem unfreien Pressewesen: In Russland werden die Medien von der Regierung gleichgeschaltet, bei uns übernehmen sie das gerne auch mal selbst. Für den Journalismus wird die Krim-Krise damit zur Sinn-Krise.

Anti-Putin-Populismus

Wer es wagte, gegen den Strom der gleichgerichteten Meinung zu schwimmen, bekam vor kurzem noch ein lächerliches Etikett verpasst: "Putin-Versteher". Nur schräge Motive konnten die Medien bei diesen Leuten bislang entdecken. Der linke NRW-Grüne Robert Zion hat mal eine Liste der mittlerweile registrierten Begründungen aufgestellt, warum die Deutschen so viel "Verständnis" für Putins Russland zeigen:

  • "die Deutsche Sehnsucht nach dem Mystisch-Schwermütigen
  • die Deutsche Sehnsucht nach dem starken Mann
  • Identifikation mit dem Täter
  • Antiamerikanismus
  • Wir sind auch nicht besser
  • Weltfremder Pazifismus."

Solche Leute, das schwingt da immer mit, muss man nicht ernst nehmen. Aber die Stimmen, die im neuen SPIEGEL zu Wort kommen, lassen sich nicht mehr so leicht abtun. Sie zwingen die Politik zur Rechtfertigung - und noch mehr die Medien. Zu viele Journalisten haben sich ohne Not auf einen "Anti-Putin-Populismus" festgelegt - so die treffende Formulierung von Armin Laschet, CDU-Chef in Nordrhein-Westfalen.

Es könnte sich ja der Verdacht aufdrängen, dass die Reaktion des Westens auf Putins ukrainische Machtpolitik auch darum so einhellig, schnell und hart war, weil darüber der innere Streit des vergangenen Jahres in Vergessenheit geraten soll.

Der Siemens-Chef im ZDF-Verhör

Wer hat sich die Frage gestellt, warum Merkel nach der Krim-Krise so schnell über die Zukunft der Gasleitungen aus Russland spekuliert - aber nach der NSA-Krise keinen Gedanken daran verschwendet hat, die Datenleitungen in die USA in Frage zu stellen?

Im "heute journal" zeigte Anchorman Claus Kleber, wie man den Regierungsauftrag erfüllt, ohne ihn bekommen zu haben. Er verhörte den Siemens-Chef Joe Kaeser, der eine lange geplante Reise nach Moskau auch tatsächlich angetreten hatte. Der Mann hat allen Grund dazu: Siemens hat in Russland 800 Millionen Euro investiert und wird auch weiterhin mit der russischen Eisenbahn Geschäfte machen - obwohl deren Chef auf einer amerikanischen Sanktionsliste steht. "Und Sie haben mit dem geredet!", fauchte Kleber, "als Repräsentant eines Unternehmens, das auch für Deutschland steht."

Entgeistert stellte Frank Schirrmacher danach fest, dass sich hier der Journalismus selbst in Politik verwandelt und das Fernsehstudio zu einem Ort wird, wo es der Interviewer ist, der außenpolitische Bulletins abgibt. Schirrmacher: "Claus Kleber zeigt der deutschen Wirtschaft die rote Linie auf."

Wir sind nicht in guten Händen.

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