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Auschwitz-Überlebende: Schmerzhaftes Wiedersehen

Foto: Till Mayer

Jahrestag der Auschwitz-Befreiung 77370 sucht 77369

Zinaida ist drei Jahre alt, als sie ins KZ gesperrt wird, als die Ärzte ihre Experimente beginnen. Ihre Eltern geben die Tochter verloren, sie suchen nicht nach ihr. Doch Zinaida überlebt, trotz allem. Zum Jahrestag der Auschwitz-Befreiung erzählt sie ihre Geschichte.

Ausgerechnet an der Nummer werden sie sich erkennen. 77370. Wie hat Zinaida Grynewitsch die Tätowierung ihr Leben lang gehasst. Diese blassen, blauen Zahlen auf ihrem linken Arm. Der Zug fährt ein. Türen springen auf. Zinaida Grynewitsch spürt ihre Herzschläge bis hinauf in die Schläfen. Eine ältere Dame steuert hastig auf sie zu, während andere Reisende noch mühsam die Koffer aus dem Waggon wuchten. Das muss sie sein: ihre Mutter Julia Passynkowa. Die alte Frau greift den linken Unterarm von Zianida. 77370. Ihre Lippen beben, als sie die Zahlen liest.

Jene fünf Ziffern, die die kleine Zinaida Grynewitsch in die Haut tätowiert bekam, als sie noch keine drei Jahre alt war: am 14. Juni 1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.

30 Jahre hatte sie auf diesen Augenblick gewartet, aber jetzt kann sie nicht einmal glücklich sein. Darüber, ihre Mutter zu sehen, ihre drei Brüder und ihre Schwester. An diesem klaren Sommertag im Jahr 1975 scheint die Sonne mild auf den Lemberger Bahnhof. Am Morgen hatte es geregnet. Die Luft ist frisch wie schon seit Tagen nicht mehr. Doch Zinaida Grynewitsch fühlt sich, als müsste sie gleich vor Aufregung ersticken.

"Du bist es", sagt die Mutter, die die Zahlen 77369 auf ihrem linken Arm trägt: "Mein Gott, meine kleine Zinaida, du bist es wirklich."

Das war also der Moment, den sie sich immer gewünscht hatte. All die Ungewissheit hat ein Ende gefunden. Doch eine Frage bleibt offen. Ein Vorwurf, der die Mutter schmerzt, genauso wie die Tochter. "Warum hast du mich in all den Jahren nicht mehr gesucht? Genau, 77370! Du hast die Nummer gewusst", das ist alles, was die Tochter zur Mutter sagen kann. Beide Frauen weinen. Zinaida Grynewitsch, geborene Passynkowa, weiß nicht, ob an jenem Tag Freude oder Verletzung überwiegen. Der 21. Juli 1975 stellte das Leben von Zinaida Grynewitsch auf den Kopf.

Schwarzweißfotos der wiedergefundenen Familie

Sie blickt kurz aus dem Fenster ihrer Wohnung im dritten Stock. Unten das übliche Winterchaos in den Wohnblock-Außenbezirken von Lemberg. Fußgänger, die zwischen grauen Fassaden über vereiste Wege schlittern, ein alter Lada, der langsam ein Pfützenmeer quert und den Fußgängern dabei eine Flut Dreckwasser vor die Füße schüttet. Alltag im Jahr 2013.

Auf dem Wohnzimmertisch von Zinaida Grynewitsch liegt die Vergangenheit klar geordnet. Die Bestätigung des Suchdiensts des Roten Kreuzes über ihre KZ-Haft und die ihrer Mutter. Alte Schwarzweißbilder, die eine junge Frau mit ihrer wiedergefundenen Familie zeigen. Mit ihren Brüdern, der Mutter, der Schwester, Tanten und Verwandten. Und einer Zinaida Grynewitsch, die dabei stets ernst in die Kamera blickt.

Dann ist da noch ein alter Zeitungsausschnitt. Mit einem Bild, das in Auschwitz-Birkenau kurz nach der Befreiung entstand. Kinder in Häftlingskleidern, mit alten traurigen Augen. Stacheldraht, Wachtürme. Links hält eine Krankenschwester ein kleines Bündel Mensch im Arm: Zinaida.

Das Bild entstand, kurz bevor das Kind mit zwei anderen nach Lemberg in ein Waisenhaus geschickt wird. Seit einigen Monaten ist da die Dreijährige bereits von ihrer Mutter getrennt. Sie wurde ins KZ Ravensbrück transportiert, die älteren Geschwister waren in einem Lager in Litauen inhaftiert. Zinaida war zu schwach für den Transport. Die KZ-Schergen brauchten sie außerdem noch als Versuchskaninchen. Um sie immer wieder mit Krankheiten zu infizieren. Mit Scharlach und Windpocken. Dann probierten die NS-Mediziner die Gegenmedikamente aus.

Zinaida gehört zu den Kindern, die die Torturen überlebten.

Zinaida ist zu jung, um sich an die Heimat zu erinnern

Dass das Mädchen in Lemberg landet, ist Zufall. Sie stammt aus der Sowjetunion, und das einst polnische Lemberg liegt nicht weit hinter der Grenze. Das Kleinkind Zinaida ist 1945 zu jung, um sich an seinen Heimatort zu erinnern. "Ich kann mich noch erinnern, dass sie den anderen Kindern gesagt haben, dass ich aus Auschwitz komme. Aber keines konnte sich darunter etwas vorstellen", sagt Zinaida Grynewitsch. Es sind die Hungerjahre der Nachkriegszeit. Stalin regiert das Land mit eiserner Hand. KZ-Überlebende stehen im Generalverdacht, Verräter zu sein. Menschenleben zählen immer noch nicht viel.

Die kleine Zinaida schläft mit zwölf anderen Kindern auf Strohsäcken im Schlafsaal. Kaum eine Nacht, in der nicht der Magen knurrt und schmerzt. Die Winter sind grausam kalt. Und weil sie eine Milchallergie hat, kann sie den Brei nicht essen, der am Morgen in den Blechnäpfen dampft. Sie ist gerade sieben, als sie sich freiwillig zum Putzdienst in der Küche meldet. Dabei kratzt sie die Reste des Mittagsessens aus den Töpfen. "So habe ich überlebt", sagt Zinaida Grynewitsch leise.

Als Mädchen ist sie ein stilles Kind, oft krank und mit einer großen Traurigkeit in der Brust. "Da waren immer die gleichen Fragen: Was ist mit mir im Lager passiert? Warum war ich dort? Was wurde aus meiner Familie?" Für das Mädchen fängt eine schmerzhafte Suche nach sich selbst an. Bald beginnt sie, die Nummer auf ihrem Arm mehr und mehr zu hassen. Manchmal kleckst sie sogar Farbe darauf, um sie zu vertuschen. "Die Nummer ist daran schuld, dass ich keinem etwas wert bin", denkt sich die heranwachsende KZ-Überlebende. Sie hört mehr und mehr von dem Gräuel der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz. Fragt sich, wie sie überleben konnte. Sie schreibt den Suchdienst des sowjetischen Roten Kreuzes an.

Die Häftlingsnummer der Mutter, eine erste Spur

"Die haben den Antrag an die Lemberger Miliz zurückgeschickt", berichtet Zinaida Grynewitsch. Irgendwann steht ein ratloser Polizist in der Tür. "Entschuldigen Sie", sagt der, "aber leider weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen kann." Von den Behörden kann sie nicht viel erwarten. Die Suche findet ein vorläufiges Ende. Bis sie heiratet und ihr Mann 1973 zu einem Verwandtenbesuch nach Polen reisen darf. Ein Abstecher führt ihn in das Archiv von Auschwitz.

"Er hat erfahren können, welche Häftlingsnummer meine Mutter hatte. Dass sie nach Ravensbrück transportiert wurde", berichtet Zinaida Grynewitsch.

Zudem kehrt ihr Mann mit der Telefonnummer einer Künstlerin aus Weißrussland zurück, die bei der Suche helfen kann. Von ihr wird sie erfahren, dass sie noch Geschwister hat, die in einem anderen Lager waren. "Wie wir anderen vermutete die Künstlerin, dass der Vater in der Sowjetunion als Partisan gegen die Faschisten gekämpft hat, und meine Familie deshalb in Sippenhaft genommen wurde", berichtet Zinaida Grynewitsch.

Sie schreibt darauf Bezirke der Sowjetunion an, in denen der Vater einst gekämpft haben könnte. Mittlerweile bekommt Zinaida Grynewitsch selbst ein Visum für Polen und fährt nach Auschwitz-Birkenau. Sie geht in den Block 12: Dort war sie als kleines Mädchen inhaftiert.

"Wir fahren am 21. Juli los. Zug 33, Wagon 6"

"Ich konnte mich nicht mehr an viel erinnern. Ich war ja so ein kleines Kind. Nur, dass ich immer schwach und krank war. Dass wir Kinder eng aneinander geschlafen haben", erzählt sie. Eine Szene fällt ihr ein, als sie in der Baracke steht. "Wir mussten auf einen Stuhl steigen, um aus einem Fenster hinauszusehen. Draußen sah ich Frauen in einer langen Reihe marschieren. Ich dachte, dass sie zur Kirche gehen", sagt die KZ-Überlebende heute.

Nach ihrer Rückkehr trudeln nach und nach Absagen aus den Bezirken ein. Dann klingelt plötzlich eines Abends die Hausglocke. Eine Mitarbeiterin vom Postamt steht in der Tür. "Das musste ich ihnen noch vorbeibringen", sagt die Frau. "Liebe Tochter, Schwester, Nichte. 30 Jahre erfolglose Suche. Endlich ist der Traum von allen in Erfüllung gegangen. Wir fahren am 21. Juli los. Zug 33, Wagon 6. Mutter, Schwester, Brüder und Tante", steht in dem Telegramm.

Ein Behördenmitarbeiter im russischen Bryansk hat mehr getan, als es seine Pflicht war, und eine kleine Anzeige in der Lokalzeitung aufgegeben. Es ist reiner Zufall, dass genau dort die Familie Passynkowa lebt.

Am nächsten Morgen steht Zinaida Grynewitsch am Bahnhof in Lemberg. Sie sind eine richtige Gruppe. Ihr Mann ist dabei, die beiden Kinder, Verwandte und Bekannte und eine alte Erzieherin aus dem Heim.

Warum unternimmt die Mutter nicht mehr?

Von ihrer Mutter erfährt sie später, dass auch ihr Vater noch lebt - aber eine andere Frau geheiratet hat, weil er davon ausging, dass seine Familie das Konzentrationslager nicht überleben konnte. "Er hat nicht lange auf uns gewartet", sagt Zinaida Grynewitsch. Aber er hätte die besten Möglichkeiten gehabt, seine verlorene Tochter zu finden. "Mein Vater war in der Partei, hatte gute Verbindungen", meint sie. Sie wird ihn nie wieder sehen. Er stirbt 1979, ohne jemals einen ernsthaften Versuch unternommen zu haben, sein Kind zu treffen. Nicht einmal einen Brief schrieb er.

Die Mutter versucht mit allen Kräften, verlorene Zeit aufzuholen. Es gibt viele Besuche über die Jahre. 1999 stirbt sie.

Sie hatte lediglich eine Vermisstenmeldung beim Suchdienst des Roten Kreuzes abgegeben, um ihre Tochter zu finden. "Bis heute verletzt es mich, dass sie nicht mehr unternommen hat. Aber sie meinte, ein Verwandter hätte Probleme bekommen, da er eine Karriere in der Partei machte. Und die Suche nach KZ-Überlebenden war gerade unter Stalin nicht gerade gut, um vorwärtszukommen", sagt Zinaida Grynewitsch. Vielleicht hatte die Mutter aber insgeheim auch Angst, ihr Kind könnte durch die medizinischen Versuche schwerstbehindert sein, wie so viele andere. "Ich hoffe, dass das nicht der Grund war", meint Zinaida Grynewitsch. Die Antwort bleibt die Mutter ihrer Tochter ein Leben lang schuldig.

Dann ist es kurz still in der Wohnung. Zinaida Grynewitsch hat Tränen in den Augen. Ihrer Mutter ganz verzeihen, das wird sie wohl nie können. So sehr sie sich darüber freut, die Familie wiedergefunden zu haben. "Ich hatte einen guten Mann, aus beiden Kindern ist etwas geworden. Das ist mir heute das Wichtigste", sagt sie. Dann blickt sie auf den linken Arm.

Die Tätowierung ist in der Haut fast verblasst. "Ist das nicht ein gutes Zeichen?", fragt Zinaida Grynewitsch. Die 77370 ist nicht mehr zu entziffern.

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