Ausschreitungen in Moskau Angriffe auf estnische Botschafterin schockieren Koalitionspolitiker
Moskau/Berlin - Ex-Kanzler Gerhard Schröder wirbt für seinen Freund Wladimir wo er kann. Kürzlich, auf dem Abschiedsfest des nach Moskau wechselnden ARD-Manns Thomas Roth, monierte er das "allzu einseitige Russlandbild in der Berichterstattung". Wo Gas-Partner Putin für Schröder doch ein "lupenreiner Demokrat" ist.
In lupenreinen Demokratien würde indes nicht vorkommen, was sich heute in Moskau zutrug. Der Angriff der kreml-nahen Jugendorganisation "Naschi" auf Estlands Botschafterin war in etwa so, als ob eine Gruppe der Jusos den österreichischen Botschafter in Berlin attackieren würde. Der dann von seinen Leibwächtern mit Pfefferspray verteidigt wird. Schlicht unvorstellbar.
Estlands Botschafterin Marina Kaljurand hatte zu einer Pressekonferenz in das Verlagsgebäude der Zeitung "Argumenti I Fakti" geladen. Bei der Ankunft wurde sie von einer aufgebrachten Menge empfangen, aus der einige Demonstranten in das Zeitungsgebäude stürmten und ein Büro verwüsteten. Die Jugendlichen schrien bei ihrem Angriff "Faschistisches Estland", berichtete ein AFP-Reporter. Hintergrund ist der Streit um ein von Estland umgesetztes sowjetisches Kriegerdenkmal.
"Es hat einen Angriff der Organisation Naschi gegeben", sagte Kaljurand. "Offensichtlich galt der Angriff mir, aber zu mir ist niemand durchgekommen. Niemand hat mich berührt." Ihren Bodyguards sei dank.
Außenpolitiker der Koalition entsetzt
In Berlin zeigten sich Außenpolitiker der Koalition bestürzt. Ruprecht Polenz (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, sprach gegenüber SPIEGEL ONLINE von "völlig unverantwortlichem Verhalten in Moskau". Sein SPD-Kollege Gert Weisskirchen erklärte, "das ist in keinster Weise zu rechtfertigen". EU-Sprecherin Christiane Hohmann forderte Moskau auf, seinen Verpflichtungen aus den diplomatischen Verträgen nachzukommen und die seit Ende vergangener Woche belagerte estnische Botschaft zu schützen. In einer Erklärung heißt es, die Präsidentschaft der Europäischen Union sei zutiefst besorgt über die derzeitigen Entwicklungen. "Die Präsidentschaft bemüht sich, in Gesprächen mit allen Beteiligten zur Deeskalation beizutragen.
Der estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves reagierte empört und forderte Russland auf, sich in der Diskussion um das in Tallinn umgesetzte Denkmal "zivilisiert" zu verhalten. In Europa würden Konflikte üblicherweise von Diplomaten und Politikern und nicht auf der Straße gelöst. Ministerpräsident Andrus Ansip sagte, Proteste gegen den Abbau des "Bronzenen Soldaten" seien nicht mehr nur Sache einiger Demonstranten. "Unser souveräner Staat wird schwer angegriffen", sagte er. "Diese Angriffe erfordern sofortiges Handeln der internationalen Gemeinschaft", hieß es weiter.
Weisskirchen, außenpolitischer Sprecher der Sozialdemokraten im Bundestag, sagte SPIEGEL ONLINE, er befürchte bis zu den russischen Präsidentschaftswahlen im März 2008 eine Häufung solcher Vorfälle. Zuletzt war ein ARD-Fernsehkorrespondent während Aufnahmen einer kreml-kritischen Demonstration von russischen Einsatzkräften im Gesicht verletzt worden. Ähnlich äußerte sich der CDU-Politiker Polenz: "Dieser Kontext macht mir schon Sorge." Die unaufgeklärten Journalistenmorde, die Beschränkung der Pressefreiheit, die gesetzgeberischen Bemühungen gegen Nicht-Regierungsorganisation - all dies passe zusammen. "Zudem pflegt Russland gegenüber dem Westen in der Rhetorik zurzeit eher die Konfrontation."
Die von den Demonstranten belagerte Botschaft ist inzwischen geschlossen. Kaljurand sagte, angesichts der Angriffe habe die Botschaft ihre Tätigkeit eingestellt; Visa würden erst wieder erteilt, wenn sich die Lage normalisiert habe. Aus Protest gegen die Umsetzung des Kriegerdenkmals campieren Mitglieder der Naschi-Jugend und der Jungen Garde seit Tagen vor dem Gebäude.
mit AP/AFP