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Westbalkan: Demos gegen korrupte Machthaber

Foto: Florion Goga/ REUTERS

#BalkanSpring Protestfrühling auf dem Westbalkan

"Wir sind der Staat!": In den Ländern des Westbalkan gehen unzufriedene Menschen gegen ihre korrupten und autoritären Regierungen auf die Straße. Die EU gilt den Unzufriedenen aber nicht mehr als Hoffnung - warum nicht?

Es sind Zehntausende Teilnehmer an jedem Wochenende. Einfache Angestellte, kleine Unternehmer und Intellektuelle, Schüler, Akademiker und Rentner. Ihre Bewegungen heißen: "Gerechtigkeit für David!", "Einer von fünf Millionen" oder "Widerstehen!". Wenn sie auf die Straße gehen, rufen sie: "Diebe!", "Rücktritt!" oder "Wir sind der Staat!"

"#BalkanSpring" nennen es die Aktivisten in sozialen Netzwerken: Protestfrühling auf dem Westbalkan: In Serbien, der bosnischen Republika Srpska, Montenegro und Albanien demonstrieren derzeit regelmäßig unzufriedene Bürger gegen ihre korrupten und autoritären Machthaber. Meistens an Sonnabenden, manche seit einigen Wochen, manche auch schon seit Monaten.

Auslöser waren jeweils einzelne Fälle, die zunächst eine kleine Öffentlichkeit empörten, aber bald in breite, allgemeine Wut umschlugen - über Klientelismus, Korruption und organisierte Kriminalität auf Regierungsebene und ein Leben in immer größerer Perspektivlosigkeit.

  • In Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska im Staat Bosnien-Herzegowina, entstand im April 2018 nach dem ungeklärten Tod eines 21-Jährigen die Bürgerbewegung "Gerechtigkeit für David". Sie mobilisierte über Monate hinweg mitunter Zehntausende Menschen zu Demonstrationen gegen das korrupte, repressive Regime des bosnisch-serbischen Nationalisten Milorad Dodik.
  • In der mittelserbischen Stadt Krusevac wurde im November 2018 der Oppositionspolitiker Borko Stefanovic brutal verprügelt und schwer verletzt. Seitdem demonstrieren in Serbien unter dem Motto "Einer von fünf Millionen" landesweit jeden Sonnabend zehntausende Menschen gegen das autoritäre Regime des Staatspräsidenten Aleksandar Vucic.
  • In Albanien begannen im Dezember vergangenen Jahres unter anderem Studenten gegen Studiengebühren und miserable Wohnbedingungen zu demonstrieren. Inzwischen richten sich die Proteste ganz allgemein gegen die nominell sozialistische Regierung des Ministerpräsidenten Edi Rama und gegen ihre mutmaßlichen Verbindungen zur organisierten Kriminalität.
  • In Montenegro veröffentlichte ein flüchtiger Geschäftsmann im Januar ein Video über die Zahlung von 100.000 Euro Schmiergeld an die Partei des Staatspräsidenten Milo Djukanovic. Er und seine Familie herrschen im Land seit fast 30 Jahren mit mafiotisch anmutenden Methoden. Die "Briefumschlag"-Affäre löste im Land die größten Straßenproteste seit Jahren aus, ihr Motto: "Widerstehen!"

Zwar erlebte die Westbalkan-Region in den vergangenen Jahren immer wieder einzelne Protestbewegungen wie den "Bosnischen Frühling" 2014 oder die "Bunte Revolution" in Mazedonien 2016. Derzeit fällt auf, dass die Menschen in der Region fast überall gleichermaßen auf die Straße gehen.

"Zum ersten Mal seit vielen Jahren gibt es in der Region einen Moment, in dem immer mehr Bürger vor den Machenschaften der regierenden Cliquen nicht mehr die Augen verschließen wollen", sagt der Politologe und Westbalkan-Experte Vedran Dzihic von der Universität Wien zum SPIEGEL.

Die Region schwankt zwischen Exodus und Aufbegehren

Noch sei schwer vorauszusagen, ob die Proteste zu Veränderungen führen würden, so Dzihic. "Das Zentrale ist jedenfalls der Wunsch der Bürger nach mehr Demokratie und ihre Haltung, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen", sagt Dzihic.

Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Jugoslawien-Kriege schwankt die Region zwischen Exodus und Aufbegehren. Aus Enttäuschung über die mangelnden Perspektiven wandern jährlich Zehntausende Menschen aus den Westbalkan-Ländern aus. Zugleich wächst bei den Daheimgebliebenen der Unmut über katastrophale Gesundheitsversorgung und Bildungsnotstand, die schlechte öffentliche Infrastruktur und Umweltprobleme.

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Westbalkan: Demos gegen korrupte Machthaber

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Die einst als Hoffnungsträger angesehene Europäische Union hat ihr Ansehen vor Ort verspielt, weil sie nach Ansicht vieler Menschen zu sehr auf die autoritären Führer als politische Partner setzt. Auch aktuell sorgen EU-Politiker für Verärgerung: Nachdem in Serbien, Montenegro und Albanien Oppositionsparteien einen Parlamentsboykott ausriefen, hieß es in Brüssel lapidar, nur das Parlament könne der Ort eines politischen Dialoges sein, die Opposition solle doch dorthin zurückkehren. Dabei seien die Boykotte verständlich, sagt Politologe Dzihic. "Die Kultur der autoritären Informalität reduziert die Parlamente zu Kulissen in den Scheindemokratien der Region."

Ein hochrangiger europäischer Diplomat in Belgrad, der ungenannt bleiben möchte, geht gegenüber dem SPIEGEL hart ins Gericht mit der EU: "Wir erleben gerade den Zerfall der Westbalkan-Politik der EU. In der Brüsseler Kommission scheinen Kohärenz und Überblick verloren gegangen zu sein. Ein Ausdruck dafür ist auch, dass die Massenproteste in der Region einfach nicht wahrgenommen werden."

Wohl auch deshalb fehlt bei den Demonstrationen ein Symbol, das früher oft zu sehen war, diesmal ganz: die Europafahne.

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