Belarussen im Exil
»Die Sicherheitsleute prügelten die meisten halb tot«
Mit äußerster Brutalität lässt Belarus' Machthaber Lukaschenko die Proteste gegen sich niederschlagen. Aus Angst um ihr Leben haben viele Demonstranten das Land verlassen. Der SPIEGEL hat einige von ihnen in Litauen getroffen.
Seit mehr als vier Monaten gehen die Menschen in Belarus gegen Diktator Alexander Lukaschenko auf die Straße. Es kommen Pensionäre und Studenten; Journalisten und Ärzte treten offen gegen die Staatsgewalt an, Arbeiter buhen Lukaschenko aus. Wer in diesen Wochen und Monaten nach Minsk blickt, erkennt den Mut der Menschen. Und ihren Widerstandsgeist.
Doch selbst wenn die Proteste anhalten, deutet wenig darauf hin, dass der Sicherheitsapparat sich gegen Lukaschenko stellen und es eine politische Wende geben wird. Stattdessen nimmt die Gewalt gegen Gegner des Regimes immer weiter zu.
Die Opposition geht davon aus, dass seit der hochumstrittenen Parlamentswahl am 9. August mehr als 25.000 Menschen gefangen genommen worden sind; in Minsk, mitten in Europa, wurde vor wenigen Wochen ein 31-Jähriger derart von Maskierten verletzt, dass er wenig später seinen Verletzungen erlag. Hunderte flüchteten aus Angst um ihr Leben ins Exil. Inzwischen schränkt Lukaschenko Ausreisen aus dem Land vorübergehend massiv ein.
Wladislaw Sokolowskij, 30, und Kirill Galanow, 27, Tontechniker
Die beiden Arbeitskollegen sind in ihrer Heimat zu Ikonen des Widerstands geworden. Wlad führt das Wort.
Tontechniker Wladislaw Sokolowskij und Kirill Galanow in der litauischen Hauptstadt Vilnius
Foto: Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL
»Wir haben in Minsk beim sogenannten Palast der Kinder und Jugend als Tonregisseure gearbeitet – kein hoch qualifizierter Job, und der Laden ist ziemlich verstaubt. Aber wir hatten ein regelmäßiges Einkommen, in dem wir etwa bei staatlichen Veranstaltungen Kinderlieder abspielten.
Das Verhältnis zu unserer Arbeitsstelle änderte sich, als unser Chef uns kurz vor Wahl zu einer spontanen Veranstaltung einbestellte. Diese sollte am selben Tag stattfinden wie eine große Demo für die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja. Es sollte unsere Aufgabe sein, die Veranstaltung zu stören, indem wir eine Gegenveranstaltung mit Musik aufzogen. Genau dort, wo die Opposition sich treffen wollte.
Vor der Wahl waren wir beide nicht sehr politisch. Uns hat im Alltag aber schon einiges gestört. Zum Beispiel, dass die Menschen in Belarus kaum westliche Musik kennen. Dass man Ersatzteile für Autos im Ausland bestellen muss. Dass PayPal nicht funktioniert. Dass wir keinen funktionierenden Rechtsstaat haben. Will man ein Geschäft eröffnen, braucht man so viele Papiere, dass man es auch gleich vergessen kann.
Als wir an dem Tag auf der Bühne standen, wurde uns klar, dass wir in eine ungute Situation geraten waren: Vor uns standen jede Menge Oppositionelle, deren Veranstaltung wir im Namen des Staates blockierten. Wir fühlten uns schlecht. Überlegten und trafen dann eine folgenschwere Entscheidung. Wir spielten die Freiheitshymne ›Peremen‹, streckten die Hand zur Widerstandsgeste nach oben. ›Freiheit, Freiheit‹, begannen einige zu rufen. Es war unglaublich.
Bis jemand den Stecker aus den Boxen zog. Wenig später, als wir den Ort verlassen wollten, zerrten Sicherheitskräfte uns in einen Minibus.
Im Okrestina-Gefängnis wurden wir zehn Tage lang eingesperrt, getrennt voneinander. Ich, Wlad, war fünf Tage in einer Einzelzelle. Ich wurde verhört und geschlagen. Sie haben meine Zelle mit eiskalter Luft heruntergekühlt. Ihr großer Wunsch war es, dass ich Kirill belaste. Fünf weitere Tage verbrachte ich mit 32 Männern in einer kleinen Zelle. Die Sicherheitsleute prügelten die meisten halb tot. Es gab pausenlos Geschrei überall.
Als wir draußen waren, sprachen wir mit Journalisten über das, was uns geschehen ist. Da wir den Eindruck hatten, viele Menschen seien noch viel mutiger als wir, hatten wir keine Angst, uns offen zu äußern. Kurz darauf aber kam ein Anruf vom Innenministerium. Ich, Wlad, musste persönlich kommen und mich vor laufender Kamera entschuldigen. Da verstand ich, dass sie uns nicht in Ruhe lassen würden. Das Land zu verlassen, war die einzige Option.«
Jewgenij S., 35, Bauarbeiter
Ein schmaler, leiser Mann, der fälschlicherweise als erstes offizielles Todesopfer der Proteste in Belarus galt.
Der Geflüchtete Jewgenij in Litauen
Foto: Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL
»Als ich an diesem Augustabend nach der Wahl losgezogen bin, habe ich mich sicher gefühlt. Es war nicht mein erster Protest und ich wusste, dass Lukaschenko es auf uns abgesehen hat. Er kam an die Macht, als ich noch Schulkind war. Mich hat an dem System in Belarus immer gestört, dass wir zwar schöne Fassaden haben, aber keinerlei Entwicklung.
Neu war an der Situation in diesem Jahr, dass jetzt Massen auf die Straße gingen. Überall habe ich Oppositionelle mit weißen Bändern um die Handgelenke gesehen. Ich zog mit einer Menschenschar zur Stadtmitte. 500 Meter vor unserem Ziel stießen wir auf eine Wand aus Kastenwagen.
Dann weiß ich nicht mehr genau, was passierte. Ich telefonierte mit einem Freund, als ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie eine Horde schwarz gekleideter Männer auf mich zu rannte. Ich sagte meinem Freund noch, dass ich gleich festgenommen werde. Dann kniete ich nieder, hob meine Hände, um zu zeigen, dass ich unbewaffnet bin.
Der erste Schlag mit dem Schlagstock traf mich mit voller Wucht ins Gesicht. Meine nächste Erinnerung ist, wie ich auf dem Boden eines Kastenwagens liege. Blut fließt aus meinem Mund. Meine nächste Erinnerung ist, wie ich auf der Erde liege und einer von Lukaschenkos Schergen die Ärzte in ihren roten Westen anschreit, dass sie mich wegbringen sollen, damit mich keiner sehe.
Das nächste Mal wache ich im Krankenhaus auf, als Sonderpolizisten an meinem Bett sitzen, um mich zu befragen.
Weil ich mich auf den Beinen halten konnte, ließen die Ärzte mich bald gehen. Bei einem Freund legte ich mich zuerst einmal aufs Sofa und schlief. Dann klingelte das Telefon, und meine Schwester war dran. Sie weinte und erzählte mir: Du giltst als erstes Todesopfer der Proteste. Der Staat hatte mich für tot erklärt. Überall waren Artikel und Fotos dazu erschienen.
Um den Menschen zu zeigen, dass ich noch lebe, sprach ich noch am selben Tag mit oppositionellen Journalisten. Das schlug Wellen, und die Lage wurde immer gefährlicher für mich. Der Innenminister bezog zu meinem Fall Stellung: Ich sei selbst schuld an meinem Zustand, weil ich auf einen Kastenwagen aufgesprungen sei. Da wurde mir klar, dass ich Belarus verlassen muss.«
Ljubow Schalajewa, 45, Versicherungskauffrau, mit ihrem Sohn Bogdan, 9
Die Mutter floh mit ihrem Sohn, weil das Jugendamt drohte, ihr das Kind wegzunehmen.
Ljubow Schalajewa mit ihrem Sohn: »Die Lage war sehr ernst für uns«
Foto: Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL
»Bis zu diesem Sommer haben wir uns für Politik nicht interessiert. Die Politik unseres Präsidenten war für uns zwar nicht verständlich, aber wir waren ihm auch nicht böse. Wir hatten ein ganz gewöhnliches Leben.
Dann kamen die Wahlen und wir sahen, wie Lukaschenko seine Gegner ins Gefängnis stecken ließ. Es war uns klar, dass diese Wahlen nicht fair werden, also beschlossen wir, Lukaschenko nicht zu unterstützen.
Nachdem ich selbst für die Opposition abgestimmt hatte, spazierte ich mit meinem Sohn durch unsere Stadt. Auf einmal gerieten wir in eine Demonstration hinein. Die Menschen waren voller Energie, und ich wurde mitgerissen und habe auch applaudiert. Wir blieben etwa zehn bis 15 Minuten bei dieser Demo, bis die Sonderpolizisten kamen und wahllos auf die Protestierenden einschlugen. Zum Glück konnten wir fliehen.
Mein Sohn ist eigentlich ein tapferer junger Mann, aber diese schwarz gekleideten Männer, die es in unserem Leben nie zuvor gab, erschreckten ihn sehr. Seitdem hat er Angst, dass ich ins Gefängnis komme. Er sagt: Mama, ich bin doch ein Kind. Bitte lass mich nicht allein. In der Nacht traut er sich nicht mehr, allein auf die Toilette zu gehen. Er braucht meine Hand.
Wir lebten in Belarus bei meiner Mutter, die aktive Unterstützerin von Lukaschenko ist. Als mein Sohn seiner Oma von der Demo erzählte, drohte sie mir, das Jugendamt anzurufen. Wenige Tage nach der Demo bekam ich Drohanrufe von Unbekannten. Ich sei eine alleinerziehende Mutter und solle aufhören, aktiv zu sein. Man drohte, mir mein Kind wegzunehmen.
Als das Jugendamt und die Schule schließlich auch noch anriefen, wandte ich mich an eine Menschenrechtsorganisation in Belarus. Die Lage war sehr ernst. Ich habe meinem Sohn gesagt, dass wir in ein besseres Leben fahren.«