Berühmte Bäckerei in Bergkarabach
Geteiltes Brot, geteiltes Leid
14.000 Brote am Tag: In Stepanakert, der Hauptstadt der umkämpften Region Bergkarabach, verteilte eine Bäckerei während des Kriegs kostenlos Brot – und wurde so zum Anlaufpunkt für die Bewohner.
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Es ist nur ein Weißbrot, knapp 620 Gramm schwer, bei 200 Grad im Ofen gebacken. Die Zutaten: Mehl, Wasser, Salz, Öl, Hefe. »Bukhanka« ist leicht herzustellen. Man muss es nicht wie das fladenbrotartige »Lavash« oder »Matnakash« per Hand formen und kneten.
Armen Saghyan, 35, und Nelson Ohanyan, 40, zwei bullige Männer mit dunklen Daunenjacken und noch dunkleren Schatten unter den Augen führen drei Bäckereien in Stepanakert, der Hauptstadt der Region Bergkarabach.
Tausende Menschen starben, 100.000 flohen vor dem Krieg. Als der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilcham Alijew in der Nacht zum 10. November ein Abkommen über das Ende der Kämpfe unterzeichnete, wurde klar: Es ist eine Niederlage für Armenien.
Drei wichtige Regionen musste Armenien an Aserbaidschan übergeben. Die Stadt Stepanakert aber nicht. In den vergangenen Tagen sind vertriebene Bewohner mit Bussen in die Stadt zurückgekehrt. Auf dem Renaissance-Platz von Stepanakert spazieren wieder Menschen durch die Kälte.
Etwa fünf Minuten mit dem Auto von dem Hauptplatz entfernt leuchtet ein schlichtes, einstöckiges Haus hell inmitten von dichtem Novembernebel. Es ist der Freitagabend des ersten Adventswochenendes. »Aroghj Hats« heißt die Bäckerei, die sie 2014 gegründet haben – gesundes Brot. An der Tür hängt seit der Gründung 2014 kein Schild. Warum auch?
Armen Saghyan und Nelson Ohanyan haben bis Anfang September selten direkt aus dem Fenster verkauft, sondern vor allem die Supermärkte Stepanakerts und die Läden angrenzender Regionen beliefert. 100 Dram für jedes »Matnakash«-Brot, umgerechnet 17 Cent. Die Armee, einer der wichtigsten Kunden, bezahlte 51 Cent pro Kilogramm Brot.
Die Bewohner sind Unruhen gewohnt, wie etwa die Gefechte im April 2016. »Aber das kann man nicht vergleichen«, sagt Armen Saghyan, »Wir haben damals keine Bomben in Stepanakert gehört.« Ihre Ehefrauen und insgesamt fünf Kinder verließen die Stadt; Ohanyans Familie kam bei den Großeltern, Saghyans Familie bei Fremden in Armeniens Hauptstadt Eriwan unter. Mitte Oktober verließen die letzten Mitarbeiterinnen die Bäckerei.
Saghyan und Ohanyan blieben. Fünf Stunden pro Tag buken sie im Auftrag der Armee. Die restliche Zeit für die Bevölkerung. Sie begannen, nur das Kastenbrot zu backen, weil es simpler ist als die anderen Fladenbrote; die Expertise und Schnelligkeit ihrer Mitarbeiterinnen fehlte.
Mitarbeiterinnen in der Bäckerei: knapp 14.000 Brote am Tag
Foto: Anush Babajanyan
Und sie entschieden, das Brot kostenlos an die Bevölkerung zu verteilen. Jeder, der sich vor das kleine Fenster stellte, bekam zwei Brote. »Wir wollten helfen. Wir hätten auch jedem nur ein Brot geben können. Allein schafft man so ein Brot gar nicht. Aber uns ging es darum, dass die Personen das Brot auch weiterverteilen können«, sagt Nelson Ohanyan, »viele haben es älteren Nachbarn mitgebracht.«
Mitarbeiter lieferten die Brote auch aus, mit ausgeschalteten Frontlichtern. Sie wollten verhindern, dass Drohnen das Auto erkannten. Ein Fahrer rammte aus Versehen eine Kuh, ein anderes Auto wurde durch Bombensplitter zerstört. Nur einer der fünf Vans funktioniert noch.
»Wir wollten helfen«, sagt Nelson Ohanyan. »Wir hätten auch jedem nur ein Brot geben können. Aber uns ging es darum, dass die Personen das Brot auch weiterverteilen können«
Foto: Anush Babajanyan
Und in all der Unsicherheit, dem Leid des Krieges zeigte sich, so die beiden Bäcker: Brot ist viel mehr als das Grundnahrungsmittel, das man hier mittags in die Suppe tunkt und abends zu Fleisch und Reis isst. Ihre geöffnete Bäckerei war für viele ein Anlaufpunkt, in der 24 Stunden am Tag gebacken wurde, egal ob Raketen einschlugen oder die Sirenen schrillten.
Freiwillige kamen zum Helfen, erzählen die beiden. Freunde und Bekannte, Studenten der Universität, Schüler, Mitarbeiter des Landwirtschaftsministeriums. Ihre Öfen liefen durchgängig. Sie buken nur Bukhanka, dafür aber knapp 14.000 Brotepro Tag.
Die Bäckerei Aroghj Hats: Hier wurde 24 Stunden am Tag gebacken, egal ob Raketen einschlugen oder die Sirenen schrillten
Foto: Anush Babajanyan
Nun, Anfang Dezember, sind viele Mitarbeiterinnen zurückgekehrt. Es gibt auch wieder die Fladenbrote Lavash und Matnakash. »Nachdem ich so schnell wegwollte wie möglich, überlege ich jetzt, in die Region zu investieren«, sagt Armen Saghyan. Sie wollen die Lieferautos reparieren, Zehntausende Euroin eine weitere Bäckerei investieren, etwa 20 weitere Menschen einstellen – Unternehmergeist gegen die niedergeschlagene Stimmung in der Stadt.
Transparenzhinweis: Nachdem die Fotografin Anush Babajanyan Fotos der Bäckerei Mitte November auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlicht hatte, meldeten sich einige ihrer 26.000 Follower mit der Frage, wie sie die Bäckerei unterstützen könnten. Babajanyan richtete ein Spendenkonto ein, bei dem mehr als 9100 Dollar zusammenkamen. Sie würden davon Mehl kaufen, teilten die Bäcker dem SPIEGEL mit.
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Nelson Ohanyan (l.), 40, und Armen Saghyan, 35, in ihrer Bäckerei in Stepanakert
Foto: Anush Babajanyan
Frisches Brot in der Bäckerei Aroghj Hats
Foto: Anush Babajanyan
Mitarbeiterinnen in der Bäckerei: knapp 14.000 Brote am Tag
Foto: Anush Babajanyan
»Wir wollten helfen«, sagt Nelson Ohanyan. »Wir hätten auch jedem nur ein Brot geben können. Aber uns ging es darum, dass die Personen das Brot auch weiterverteilen können«
Foto: Anush Babajanyan
Die Bäckerei Aroghj Hats: Hier wurde 24 Stunden am Tag gebacken, egal ob Raketen einschlugen oder die Sirenen schrillten