Bin Ladens Tod Obama verfolgte "Geronimos" letztes Gefecht live
Es ist die beste und geheimste Eliteeinheit des US-Militärs. Ihre verdeckten Einsätze kommen selten ans Licht - und wenn, dann sind sie voller Sprengkraft. Die Invasion Grenadas 1983. Der Bürgerkrieg in Somalia 1993. Die Jagd auf serbische Kriegsverbrecher 1996. Die Befreiung des dänischen Frachters "Maersk Alabama" aus somalischer Piratenhand 2009.
Als auserlesenster Bestandteil der Navy Sea, Air and Land Teams, kurz Navy Seals, jener sagenumwobenen Spezialtruppe der US-Marine, unterstehen sie dem Präsidenten direkt. Hochtrainiert, eiskalt, unerschütterlich: Auch für die jüngste Mission, die tödliche US-Operation gegen Terrorchef Osama Bin Laden, waren sie ideal.
Als sich die Männer des Navy Seals Team 6 in der Nacht zum Montag europäischer Zeit mit vier Helikoptern dem Ort Abbottabad in Pakistan nähern, da hat Bin Laden schon keine Chance mehr. Der Kampf dauert weniger als 40 Minuten.
Die genauen Umstände, unter denen der Qaida-Chef zu Tode kommt, werden wohl lange diffus bleiben. Doch sickern immer mehr dramatische Details durch, die es ermöglichen, den Ablauf zu rekonstruieren. Quellen sind US-Regierungskreise und unabhängige, doch übereinstimmende Recherchen von US-Medien.
Identischer Nachbau der Bin-Laden-Residenz
Der Einsatz hat einen langen Vorlauf. Vor vier Jahren schon identifizieren die USA - anhand von Informationen durch Terrorhäftlinge im Lager Guantanamo und in den geheimen CIA-Knästen in Osteuropa - einen von Bin Ladens Boten. Doch erst im August 2010 kommen CIA-Agenten dem engen Vertrauten auf die Spur: Er lebt mit seinem Bruder in Abbottabad - in einem auffallend aufwendigen Gebäudekomplex. Der Verdacht: Hier versteckt sich auch Bin Laden.
"Es war alles andere als sicher", sagt US-Präsident Barack Obama, als er am Sonntag vor die TV-Kameras tritt, "und es dauerte viele Monate, um diese Spur zu verifizieren."

Tödliche US-Operation: Jagd auf Bin Laden
Mitte Februar verdichten sich die Pläne für einen US-Schlag. "Unsere Zuversicht wurde immer größer", berichtet ein Obama-Berater am Montag. Man sei sich immer sicherer gewesen, dass Bin Laden in dem Anwesen sein würde, "wenn der Angriff stattfindet".
Bei einer Reihe von Treffen seines Sicherheitsteams im März und April lässt Obama die Mission ausarbeiten. Kurz wird erwogen, das Gelände aus der Luft heraus zu sprengen, mit B-2-Tarnkappenbombern. Doch Obama fürchtet, dass das alle Beweise pulverisieren würde - auch die Leiche Bin Ladens. Stattdessen beauftragt er das Navy Seals Team 6 mit dem hautnahen Einsatz.
Anfang April beginnt Team 6 zu trainieren. In Camp Alpha, einem abgesonderten Abschnitt des US-Luftwaffenstützpunkts Bagram in Afghanistan, wird ein identischer Nachbau des pakistanischen Bin-Laden-Anwesens errichtet. Die Aktion wird zweimal "kalt" durchgezogen.
Manche Planer im Weißen Haus scheuen zurück. Einige erinnern an fatale Fehlschläge, etwa den missglückten Truppeneinsatz in Somalia 1993. Es sei Obama selbst gewesen, sagen Berater, der die Sache mit "seinem persönlichen Interesse" vorangetrieben habe.
Neun Frauen, 23 Kinder
Am Freitagmorgen trifft sich Obama im Weißen Haus mit Sicherheitsberater Thomas Donilon und Anti- Terror-Chef John Brennan. Er gibt grünes Licht für den Einsatz. Die Federführung überträgt er dem CIA-Direktor Leon Panetta. Bin Ladens Codename ist "Geronimo".
Dichte Wolken über Abbottabad lassen Panetta aber noch 48 weitere Stunden zögern: Er will auf klaren Himmel warten, vorhergesagt für die Nacht zum Montag, um Flankenschutz durch Drohnen zu ermöglichen. Pakistans Regierung wird nach Angaben der USA nicht vorab informiert.
Der Einsatz beginnt am Montag gegen 1 Uhr Ortszeit. Vier Transporthubschrauber machen sich in mondloser Nacht vom US-Luftwaffenstützpunkt Ghazi in Pakistan auf nach Abbottabad. An Bord: 79 Soldaten des Seals Teams 6. Sie führen Hightech-Ausrüstung mit sich, etwa Nachtsensoren. Eine ferngesteuerte "Predator"-Drohne begleitet die Gruppe.
Obama und sein Team - darunter Vizepräsident Joe Biden und Außenministerin Hillary Clinton - verfolgen den Einsatz im Lagezentrum des Weißen Hauses live über Videokonferenz mit. Sie sitzen und stehen um einen Tisch mit Laptops, Biden fingert mit einem Rosenkranz herum. Panetta ist aus der CIA-Zentrale jenseits des Potomac Rivers zugeschaltet. "Die Minuten verstrichen wie Tage", berichtet John Brennan später.
So werden sie auch hilflose Zeugen haariger Situationen. Ein Hubschrauber hat eine Panne und macht eine Bruchlandung. Es ist, wie ein Berater sagt, "ein nervenaufreibender Moment". Das geplante Abseilen in den Gebäudekomplex muss aufgegeben werden, die Spezialtrupps greifen zu Fuß an. Schnell überwinden sie die mehrere Meter hohen, von Stacheldraht gekrönten Mauern und erklimmen die Balkone.
In dem Anwesen befinden sich 36 Personen: vier Männer (Bin Laden, einer seiner Söhne, der Bote und dessen Bruder), neun Frauen und 23 Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren.
"Enemy killed in Action"
Das Feuergefecht hat den Charakter einer "chirurgischen" Aktion, die Kollateralschäden vermeiden soll. Alle vier Männer sowie eine Frau kommen um - nach Angaben des Weißen Hauses ist es der Terroristenchef selbst, der eine seiner Ehefrauen dabei angeblich als menschlichen Schutzschild missbraucht. Zwei weitere Frauen werden verletzt.
Die Seals finden Bin Ladens Familie zuletzt, im zweiten Obergeschoss. Bin Laden leistet heftigen Widerstand und versucht, auf die Angreifer zu schießen. Ein Seal tötet ihn mit zwei Schüssen in den Kopf über dem linken Auge.
"'Geronimo' EKIA", meldet ein Seal: "Enemy killed in Action", "Geronimo" im Gefecht gefallen. Im Lagezentrum herrscht Schweigen. Dann sagt Obama lakonisch: "Wir haben ihn."
Erste Berichte, die Seals hätten von Anfang nur einen Tötungsbefehl gehabt, dementieren US-Regierungskreise: Bin Laden sei einzig erschossen worden, weil er sich gewehrt habe.
Die Frauen und Kinder werden "an einen sicheren Ort" gebracht. Auch stellen die Seals in dem Haus Dokumente und Computer sicher. Auf dem Rückweg zerstören sie den defekten Hubschrauber, um keine Technologie zu hinterlassen. Bin Ladens Leiche nehmen sie mit.
Ein weiterer Schreckmoment ereignet sich zum Ende der Aktion. Plötzlich steigen pakistanische Militärjets auf, nachdem die Eindringlinge offenbar bemerkt wurden. Die Seals-Hubschrauber können sich aber noch rechtzeitig genug absetzen.
Leiche ins Meer gekippt
Dass es sich bei dem Toten wirklich um Bin Laden handelt, wird umgehend versucht zu verifizieren. Zum einen haben ihn die Seals und eine seiner Frauen identifiziert. Zum anderen vergleichen CIA-Spezialisten ein Foto der Leiche, das ein Seal schnell in die USA funkt, mit früheren Bildern und bestätigen "mit 95-prozentiger Sicherheit", dass es wirklich Bin Laden ist. "99,9 Prozent" Sicherheit ergeben sich schließlich durch Vergleiche von DNA-Proben der Leiche mit denen von Familienmitgliedern Bin Ladens.
Der Leichnam wird auf den US-Flugzeugträger "Carl Vinson" geflogen, der im Nordarabischen Meer wartet - dasselbe Schiff, das nach dem Erdbeben von Haiti 2010 Hilfe leistete. Da Tote nach islamischem Brauch binnen 24 Stunden beigesetzt werden sollen, gibt es eine Seebestattung. Regierungskreise geben zwei Begründungen dafür: Angeblich habe sich kein Land finden lassen, das Bin Laden beerdigen will, und außerdem: "Wir wollen nicht, dass Leute zu einem Schrein pilgern."
Bin Ladens Leiche wird gewaschen, in ein Laken gehüllt und in einen mit Gewichten beschwerten Sack gepackt. Ein Offizier liest eine religiöse Widmung vor, die ins Arabische übersetzt wird. Der Sack wird dann auf ein Brett gelegt und ins Meer gekippt.
Im Weißen Haus bekommt Obama um 20.30 Uhr Ortszeit das letzte Briefing, bei dem ihm Bin Ladens Identität endgültig bestätigt wird. Er ruft seine Vorgänger George W. Bush und Bill Clinton an und beginnt, seine Ansprache an die Nation selbst zu schreiben. Um 23.35 Uhr tritt er vor die Fernsehkameras im East Room.