

Berlin/Washington/Kabul - Das Kapitel Afghanistan ist mit Osama Bin Ladens Tod nicht geschlossen für die USA. Noch sind etwa 100.000 amerikanische Soldaten am Hindukusch im Einsatz, rund 100 Milliarden Dollar kostet das die US-Steuerzahler pro Jahr. Aber ohne Bin Laden - und diese Hoffnung wird nun immer lautstärker in Washington geäußert - könnte sich ein Ausweg für die Amerikaner und ihre Verbündeten aus Afghanistan ergeben, der Menschenleben wie Kosten spart: durch Gespräche mit den Taliban.
"Bin Ladens Tod ist der Beginn des Endspiels in Afghanistan." Mit diesen Worten zitiert die "Washington Post" einen hochrangigen US-Regierungsvertreter. Aber dieses Endspiel soll, anders als in den vergangenen Jahren, ohne Waffen geführt werden. Nicht im Kampf gegen die Taliban, in dem bisher mehr als 2350 Soldaten der US-geführten Allianz und Tausende Afghanen ihr Leben ließen, sondern im Dialog mit den Aufständischen.
Ein Top-Regierungsmann drückt das so aus: Das Ausschalten des Qaida-Führers "ergibt eine Möglichkeit der Aussöhnung, die vorher nicht existiert hat".
Das Kalkül: Obama hat mit dem Ausschalten Bin Ladens so viel Stärke bewiesen, dass Gespräche mit den Taliban nun nicht mehr als Ausdruck von Schwäche interpretiert werden können. Die Bereitschaft der Taliban zum Dialog, so glaubt man, dürfte gewachsen sein, weil ihr Mythos der Unverwundbarkeit durch den erfolgreichen Schlag gegen den Qaida-Chef schweren Schaden erlitten hat.
Doch ist diese Hoffnung auf Frieden berechtigt?
Bis jetzt haben sich die Taliban - genau wie al-Qaida - nicht zum Tod Bin Ladens geäußert. Es steht außer Frage, dass sie seinen Tod offiziell bedauern werden; doch man darf mutmaßen, dass sein Abgang sie nicht übermäßig erschüttert. Für die Aufständischen stellte al-Qaida im Grunde eine Bedrohung dar - und es ist bekannt, dass etliche Taliban-Kommandeure Bin Laden hassten: Weil er den Krieg zurück ins Land holte. Strategisch schränkte die Allianz den politischen Spielraum der Taliban zudem extrem ein. Mustafa Hamid, ein Vordenker der Bewegung, machte sich im vergangenen Jahr sogar öffentlich Gedanken darüber, ob man den Qaida-Chef nicht unter Hausarrest stellen sollte.
Den Taliban geht es nur um Afghanistan
Die in Afghanistan agierenden Taliban sind radikale Islamisten, sie sind Aufständische, die sich terroristischer Methoden bedienen - aber sie sind in der Mehrzahl auch Afghanen, denen es vor allem um ihr Land geht. Versteckt zwischen all ihrer Hasspropaganda betonen viele Talibanführer seit Jahren, dass sie friedliche Beziehungen zu den Nachbarländern wünschen. Und dass der Zweck ihres Kampfes allein darin besteht, die Invasoren zu vertreiben.
Die CIA vermutet noch rund 100 Qaida-Mitglieder in Afghanistan - mit denen die Taliban niemals reibungsfrei zusammenwirkten. Trotzdem gewährte Anführer Mullah Omar seinem Qaida-Counterpart Bin Laden Unterschlupf, daran hat er sich stets gehalten, ihn nicht verraten oder ausgeliefert. Aber Omar versuchte, ihn loszuwerden. Schon 1998 hätte er den Qaida-Chef gerne nach Tschetschenien abgeschoben, berichtet der pakistanische Journalist Rahimullah Yusufzai, der beide Männer getroffen hat.
Verhandlungen lehnten die Taliban bisher ab, im Glauben, dass sie die Nato-Truppen über einen Ermüdungskampf zum Abzug zwingen können. Auch nach Bin Ladens Tod werden sie diese Linie nicht sofort ändern. Aber zumindest der Spielraum für eine innerafghanische politische Annäherung ist wahrscheinlich größer geworden. Und klar ist: Die bislang geltende Vorbedingung für offizielle Gespräche - eine Distanzierung oder Auslieferung von Bin Laden - ist mit dessen Tod obsolet.
Unter Hochdruck arbeiten die Strategen von Präsident Barack Obama, das berichtet die "Washington Post", an einer Dialog-Strategie mit den Taliban. Schon am Dienstag, also nur zwei Tage nach dem tödlichen Schlag gegen Bin Laden, traf sich der amerikanische Afghanistan-Beauftragte Marc Grossman mit dem pakistanischen Außenminister und einem hochrangigen Vertreter Kabuls, um eine gemeinsame Friedensinitiative zu vereinbaren.
Dialog-Debatte auch in Berlin
Die US-Signale sind auch in Berlin angekommen. Plötzlich flammt hier wieder die Debatte auf, ob Gespräche mit den Taliban die richtige Strategie für die Befriedung Afghanistans und einen raschen Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch sein könnten. Im Frühjahr 2007 hatte der damalige SPD-Chef Kurt Beck noch heftige Prügel für seinen Vorschlag kassiert, mit den Taliban zu verhandeln, ähnliche Vorschläge gab es danach selten.
Doch jetzt sind sie sogar von einflussreichen Vertretern der Regierungsfraktionen zu hören. Der CDU-Mann Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, sagt: "Wir brauchen in Afghanistan eine politische Lösung. Und da wird man über kurz oder lang mit den Taliban zu Gesprächen kommen müssen." Polenz, ein Amerika-Kenner und erfahrener Transatlantiker, setzt auf die Dialog-Kräfte in Washington. "Die USA begreifen den Tod Bin Ladens möglicherweise als Chance für eine eigene Initiative zur Verhandlungen mit den Taliban."
Auch die FDP-Verteidigungsexpertin Elke Hoff erwartet Gespräche mit den Taliban - allerdings nur dann, "wenn diese sich klar von al-Qaida oder ähnlichen Organisationen distanzieren". Hoff, die eben von einer Reise nach Afghanistan zurückgekehrt ist, sieht bei den Aufständischen eine wachsende Bereitschaft zum Dialog. "Es gibt eine Reihe von belastbaren Hinweisen, vor allem über Mittelsmänner von Mullah Omar, dass führende Taliban-Vertreter zu direkten Gesprächen mit dem Westen bereit sind." Die FDP-Politikerin glaubt, "der Druck auf beiden Seiten ist groß, den Krieg zu beenden".
Klar und deutlich fordert die Opposition zum Dialog mit den Taliban auf. "Ich halte eine direkte Kontaktaufnahme von Amerikanern und Taliban für angezeigt", sagt SPD-Fraktionsvize Gernot Erler. Der Ex-Staatsminister im Auswärtigen Amt glaubt: "Allen am Afghanistankonflikt Beteiligten ist klar, dass die Taliban in eine künftige Machtstruktur Afghanistans eingebunden werden müssen." Und auch Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hofft auf einen Dialog mit den Aufständischen. Allerdings äußert sich der ehemalige Außenminister gewohnt zurückhaltend: Der Tod Bin Ladens müsse auch die Integration jener Afghanen erleichtern, die sich vom Terrorismus lösen, sagt er.
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin wird konkreter: "Nur ein politischer Verhandlungsprozess unter Einbeziehung von Taliban, die sich von al-Qaida lossagen, der Gewalt abschwören und die Verfassung akzeptieren, kann die Lösung für Afghanistan sein", sagt er. "Man darf Hoffnung haben, dass jetzt auch eine politische Lösung des Afghanistankonflikts leichter wird." Trittin scheint die Signale aus Washington ernst zu nehmen.
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