Bin Ladens Wahlkampf Ablenkung vom Chaos im Irak

Terrorfürst Bin Laden hat seinem Erzfeind Georg W. Bush kurz vor der US-Wahl einen Gefallen getan. Mit seiner Videobotschaft hat er die Terrorgefahr ins Zentrum des Wahlkampfes gerückt - das einzige Feld, auf dem die Amerikaner ihrem Präsidenten mehr zutrauen, als dem Herausforderer Kerry.
Von Georg Mascolo

Washington - In seinem Schreibtisch im Oval Office verwahrt George W. Bush, Präsident eines Landes im Krieg gegen den Terrorismus, eine streng geheime Liste. Penibel aufgelistet finden sich alle so genannten "High Value Targets", die Anführer der Qaida. Gibt es Neuigkeiten über den Stand der Jagd, schreibt Bush sie an den Rand. Wird einer der Terroristen getötet, streicht er den Namen aus. Über den Mann ganz oben auf der Liste hatte Bush lange nichts zu notieren. Dabei hatten ihm seine Militärs Anfang des Jahres noch versprochen, dass Osama Bin Laden bald tot oder verhaftet sein werde. Der Triumph blieb bisher aus, der Bin Laden, der sich nur drei Tage vor der Wahl per Videobotschaft zurückmeldet, macht nicht einmal den Eindruck, als fühle er sich in die Enge getrieben.

Als gute Nachricht gilt vielen Amerikanern aber schon, dass es nur eine Botschaft und keine Bombe ist, mit der sich der Terrorfürst in Erinnerung bringt. Seit Monaten orakeln die Geheimdienste, dass ein verheerender Anschlag droht - möglicherweise um die Wahl in den USA zu stören.

Bin Ladens Nachricht ist obskur und ihre Auswirkung auf den Wahlausgang schwer zu beurteilen. "Eure Sicherheit liegt nicht in den Händen von Bush, Kerry, oder der Qaida, sondern in Euren eigenen Händen." Bush wiederholte prompt seine Botschaft von der Wichtigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen und die Auseinandersetzung zu gewinnen. In einer ersten Reaktion sagte US-Präsident Bush, die Amerikaner würden sich vom Feind ihres Landes weder einschüchtern noch beeinflussen lassen. "Ich bin mir sicher, dass Senator Kerry dem zustimmen würde", sagte Bush.

Auch Kerry betonte die nationale Einheit im Kampf gegen den Terrorismus. Dabei gebe es weder Demokraten noch Republikaner, sondern nur Amerikaner. Er warf Bush jedoch zugleich vor, einen schweren Fehler begangen zu haben, als er im Jahr 2002 die Jagd nach Bin Laden örtlichen Truppen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet überließ, statt US-Eliteeinheiten einzusetzen.

In einem Land, in dem die Umfragen inzwischen kein klares Bild mehr vermitteln, wer wirklich vorne liegt, ist der Einfluss des Videobandes nur schwer vorauszusagen. Vielleicht genügt Bin Ladens plötzliches Erscheinen in der heißen Phase des US-Wahlkampfes, um Bush ins Ziel zu bringen. Denn die große Mehrheit der Amerikaner traut Bush bei der Bekämpfung des Terrorismus mehr zu. Deshalb könnte die Erinnerung an die Gefahr dem Amtsinhaber nutzen. Bin Laden hat Bush den Gefallen getan, die Aufmerksamkeit vom Chaos im Irak weg zu lenken. Andererseits wird Bin Ladens Fernsehauftritt viele Amerikaner auch schmerzlich daran erinnern, dass ihr Präsident zwar zwei Kriege führte, in denen hunderte US-Soldaten starben, aber der Staatsfeind Nummer eins noch immer unbehelligt den internationalen Terror orchestrieren kann.

Die Botschaft des Weltfeindes erinnert in ihrem Stil an eine Warnung an die Europäer im April dieses Jahr. Denen hatte Bin Laden mit schweren Schlägen gedroht, wenn sie sich nicht vom amerikanischen Kurs abwenden und mit al-Qaida Verhandlungen aufnehmen. Seine Nachricht für die Amerikaner ist ähnlich. Zieht Euch zurück aus der islamischen Welt, dann habt Ihr auch nichts zu befürchten. "So wir Ihr unseren Frieden bedroht, bedrohen wir Euren."

Es ist das zweite Mal, dass der Saudi eher wie ein Diplomat, ein Staatsmann, erscheinen will. Statt weiterer Attacken bietet er ein Ende des Konfliktes an. Statt an die Regierungen wendet er sich an die Menschen selbst, in der Hoffnung, dass deren Angst vor Terror die Politik zum Einlenken zwingt. Den Europäern stellte Bin Laden damals ein dreimonatiges Ultimatum, nach dessen Ablauf bislang nichts geschah. Seitdem debattierten die Geheimdienste darüber, wozu das Netzwerk derzeit überhaupt noch in der Lage ist. Oder ob die Qaida, unfähig, Anschläge wie den 11. September zu wiederholen, jetzt versucht, mit Drohungen ihre Ziele zu erreichen.

Dass ein Mann von Bin Ladens Hybris der Versuchung, in den Wahlkampf einzugreifen, nicht widerstehen konnte, überrascht nicht. Terrorismus ist die Verbreitung von Angst, und in soweit hat er schon heute zum erfolgreichsten Vertreter aller Zeiten der mörderischen Zunft geschafft. Selbst der knappe Grippeimpfstoff wird im Wahlkampf sofort mit ihm in Verbindung gebracht. Ein Präsident, der kein Serum für die Menschen heranschafft, schützt das Volk auch nicht vor Angriffen mit biologischen Waffen, sagt Kerry.

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