
Anklage wegen Bloody Sunday: 47 Jahre zu spät?
Nordirland-Konflikt Der lange Schatten des "Bloody Sunday"
Kaum ein Thema zeigt so deutlich, wie schwer es ist, 30 Jahre Bürgerkrieg zu überwinden, wie die quälend lange Debatte über den "Bloody Sunday" am 30. Januar 1972. Eine Truppe britischer Fallschirmjäger eröffnete damals das Feuer auf eine lautstarke, aber weitgehend friedliche Bürgerrechts-Demonstration. 13 meist junge Menschen starben im Kugelhagel.
Es war der Tag, als die Unruhen in Nordirland endgültig zum blutigen Bürgerkrieg eskalierten. 1972 wurde mit 480 Toten das blutigste Jahr der "Troubles", wie sie dort verniedlichend genannt werden. Weitere 3000 Menschen mussten sterben, bis Großbritannien so weit war, 1998 mit der sogenannten Saville-Kommission eine Untersuchung zum Bloody Sunday zu beginnen.
Weitere zwölf Jahre vergingen, bis die Kommission 2010 ihre Ergebnisse vorlegte und Großbritannien sich seines Teils der Schuld am nordirischen Bürgerkrieg stellte, diese eingestand und sich entschuldigte.
Seitdem warteten die Angehörigen darauf, dass endlich auch die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Jetzt, weitere neun Jahre später, entschied Nordirlands Staatsanwaltschaft darüber, ob und wie viele der 17 identifizierten Schützen sich vor Gericht werden verantworten müssen.
Die Antwort: einer.
Der als "Soldat F" bezeichnete Veteran soll zwei Jugendliche erschossen und vier weitere verletzt haben.
Empörung auf allen Seiten
Die Entscheidung hat erheblichen Symbolcharakter - und das in mehrfacher Hinsicht. Direkt nach Verkündung des Spruchs wandte sich Generalstaatsanwalt Stephen Herron an die Presse: "Im Licht der Ergebnisse der Bloody-Sunday-Untersuchung gab es eine erhebliche Erwartungshaltung an die Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Es ist aber so, dass viele der Beweise, die von der Untersuchung in Betracht gezogen wurden, den Anforderungen an ein gerichtliches Verfahren nicht genügen."

Bloody Sunday: Der Tag, der Nordirland veränderte
Er sei sich darüber im Klaren, dass die Entscheidung, nur einen der Soldaten anzuklagen, die Familien der Opfer enttäusche: "Wir haben das direkte Gespräch mit ihnen gesucht und ihnen die Gründe erläutert." Die Entscheidung relativiere die Erkenntnisse der Saville-Kommission aber nicht, "dass die Getöteten und die Verletzten in keiner Weise eine Gefahr für die handelnden Soldaten bedeuteten".
Im Klartext: Herron erkennt zwar an, dass 1972 wehrlose Unschuldige erschossen wurden, klagt aber 16 von 17 Tätern nicht an, weil die Beweise nicht reichen.
Klar, dass das den Angehörigen nicht genügt.
John Kelly, dessen Bruder Michael mit 17 Jahren im Kugelhagel starb, sprach bei einer Pressekonferenz in Derrys altehrwürdiger Guildhall für die Angehörigen: Die seien "schrecklich enttäuscht" von der Entscheidung. Zwar sei die Anklage gegen "Soldat F" ein Sieg für alle Opfer. Der gehe aber längst nicht weit genug: "Das ist noch nicht das Ende. Wir werden weitermachen und hoffentlich dafür sorgen, dass auch der Rest der Täter eine gerechte Strafe bekommt."
Empörung gibt es aber auch von anderer Seite. Seit Beginn der Bloody-Sunday-Untersuchungen im Jahr 1998 kritisieren nicht nur Veteranenvertreter, sondern auch Sprecher des protestantisch-loyalistischen Lagers, dass überhaupt Soldaten als Täter ins Visier genommen werden. Soldaten seien Diener des Staates. Sie verdienten Anonymität und Straffreiheit für die Dinge, die ihnen im Dienst befohlen worden seien.
Kontroverse Entscheidung in angespannter Lage
Das Thema "Bloody Sunday" und die Entscheidung der Staatsanwaltschaft haben damit das Potenzial, den noch immer schwelenden nordirischen Konflikt wieder anzufachen. Einer aktuellen, ebenfalls heute veröffentlichten Studie zufolge fühlen sich auch jetzt noch zehn bis elf Prozent aller Bürger Nordirlands am besten von ihren eigenen paramilitärischen Organisationen wie IRA oder UDA "beschützt" und unterstützen sie. Seit Monaten steigt die Zahl der Morde, Anschläge und Drohungen wieder.
Seit Januar sorgt dabei die "New IRA" (NIRA) mit einer spektakulären Autobombe, fünf Briefbomben, Prozessen um zwei Morde und Waffenlager-Funden an der irischen Grenze für Aufsehen. Zugleich häufen sich unter protestantischen Extremisten die Morde - möglicherweise Ausdruck eines Machtkampfs.
Die Radikalen beider Seiten sind wieder im Kommen - und sie hoffen auf steigende Unterstützung. Der Grund: "Die paramilitärischen Organisationen sehen den Brexit als Chance - je härter, desto besser", analysierte kürzlich Gerry Moriarty, der Nordirland-Korrespondent der "Irish Times".
Denn für die Radikalen ist der alte Konflikt "Unfinished Business" - ein nicht abgeschlossenes Geschäft, wie die Politologin Marisa McGlinshey eine Studie über die nach wie vor aktiven Terroristen nannte, die sie im Februar in Buchform vorlegte. Die Akteure im IRA-Spektrum werden gemeinhin "Dissidents" genannt, weil sie vom Friedenskurs abweichen, den der durch die Partei Sinn Fein repräsentierte Mainstream der Republikaner vorgibt.
Doch Gruppen wie die NIRA sehen das genau andersherum: Abweichler von den Zielen, die Briten aus Irland zu vertreiben, seien die, die sich auf den Frieden einließen.
Die irischen Sicherheitskräfte erstellen seit einigen Monaten Listen mit Gefährdern. Auf beiden Seiten der Grenze glaubt man, der Konflikt könnte wieder aufbrechen, wenn es zu einem harten Brexit komme. "Mehrere Hundert" Extremisten stünden wieder unter Waffen.
Die Bloody-Sunday-Entscheidung dürfte da zusätzliches Wasser auf die Mühlen der Friedensfeinde sein. Auf beiden Seiten.