Blutbad im Gaza-Streifen "Nach diesem Massaker denkt niemand an Frieden"
Tel Aviv - Frauen schluchzen, Mütter suchen nach ihren Kindern, und selbst die Männer konnten ihre Emotionen nicht beherrschen. Der Augenzeuge Abu Ala, ein Hochschuldozent, berichtet, Überlebende hätten weinend auf der Straße gesessen. Ein Mann habe seinen Finger in eine Blutlache getunkt, seinen leeren Blick apathisch auf die Trümmer gerichtet. Wie ein Tsunami ist der israelische Artillerieangriff über den palästinensischen Ort Bet Hanun hereingebrochen.
Bei der Attacke wurden 20 Palästinenser getötet und mehrere Menschen verletzt. "Wir zogen die Leichen aus den Trümmern", sagt Sanitäter Klaed Abu Saada, "alles Frauen und Kinder, zum Teil ohne Glieder oder ohne Kopf." Die ganze Stadt sei derzeit damit beschäftigt, sich um die Toten und um die Verletzten zu kümmern, berichtet er, "zwischen Blutlachen und herumliegenden Körperteilen". Oft sei es schwierig, die Leichen zu identifizieren so entstellt seien sie.
Viele Häuser in Bet Hanun sind beschädigt. Das vierstöckige Gebäude der Brüder Saed und Sadi Al-Athamneh wurde dem Erdboden gleich gemacht. Die Eltern und die Kinder erwischte es im Schlaf. Die Großfamilie wurde auf einen Schlag ausgelöscht, darunter auch die ein Jahr alte Dima.
Im Nachbarhaus kamen die Freunde der Großfamilie ums Leben. "Wir schliefen und wurden vom Krach der Granaten geweckt, die im Haus meines Onkels einschlugen", berichtet die 14-jährige Asma Athamna. "Wir verließen das Haus fluchtartig. Die Granaten töteten meine Mutter, meine Schwester, und sie verwundeten alle meine anderen Geschwister."
Die Krankenhäuser von Gaza stünden vor dem Kollaps, sagt Jumaa Squa, der Direktor des Schifa-Spitals von Gaza: "Uns fehlen viele Medikamente, und die Stromversorgung ist unregelmäßig. Wir haben zwar das medizinische Personal, aber zu wenig Mittel." Es fehlen zum Beispiel sterile Ausrüstungen oder Sauerstoff für Patienten.
Als Soforthilfe hat Israel zugesichert, die Grenzen zum Gaza-Streifen für humanitäre Lieferungen zu öffnen. "Ein Tropfen auf den heißen Stein", kommentiert ein Arzt lakonisch.
Die Palästinenser fühlten sich allein gelassen, bringt Hochschuldozent Abu Ala das bittere Gefühl seiner Mitbürger auf den Punkt. Dass sie von den USA und der EU im Stich gelassen würden, daran habe man sich mittlerweile gewöhnt. Umso mehr würden die Palästinenser jetzt Beistand von den arabischen Brüdern erwarten, sagt Abu Ala. Doch auch diese schwiegen. Er wittert eine internationale Konspiration gegen die Palästinenser.
Israel wollte ein Zeichen der Abschreckung setzen
Viele Palästinenser würden in ihrer Verzweiflung nach einer internationalen Truppe rufen. Dringender sei allerdings die Bildung einer nationalen Einheitsregierung, um die notorische Zwietracht zu überwinden. Die Leute forderten jetzt erst recht, dass Präsident Mahmud Abbas und Premier Ismail Hanija ihre kleinlichen Zwiste vergessen und an die übergeordnete Aufgabe dächten: "das Wohl der Bevölkerung."
Bet Hanun hatte in den vergangenen Tagen ohnehin arg gelitten. Sie stand im Mittelpunkt einer israelischen Offensive, bei der in einer Woche rund 50 Palästinenser getötet wurden, zumeist Mitglieder militanter Organisationen. Mit der Aktion gegen den Ort wollte die israelische Armee den täglichen Raketenbeschüssen auf südisraelische Städte ein Ende bereiten. Kaum hatte sich die Armee gestern aus Bet Hanun zurückgezogen, fielen aber erneut fünf Raketen. Mit dem Artilleriefeuer wollte die israelische Armee ein Zeichen der Abschreckung setzen.
Verteidigungsminister Amir Peretz verlangt bis morgen Abend den Bericht der von ihm eingesetzten Untersuchungskommission über das Blutbad. Der wird auch die Frage beantworten müssen, weshalb mit zielungenauen Kanonen auf die Zivilbevölkerung geschossen wird.
Die Wut der Palästinenser ist groß. Die Regierung hat eine Trauerperiode von drei Tagen ausgerufen, die Geschäfte in Gaza sind geschlossen, bei Demonstrationen wird Rache geschworen. "Nach diesem Massaker mag niemand an Frieden denken", sagt Abu Ala.
"Die Rache wird kommen"
Dagegen findet der Aufruf des in Damaskus residierenden Hamasführers Khaled Maschaal Widerhall. "Wir prangern dieses Massaker an. Wir prangern es nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten an. Der Widerstand handelt und redet nicht", droht er.
Ins Visier der Rachedurstigen gerät nicht nur Israel, sondern auch die USA. "Die Verantwortung für diese Massaker liegt bei Israel und bei der amerikanischen Führung, weil diese die Attacken der letzten Tage in Bet Hanun mit dem israelischen Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt hatte", sagt Maschaal. Die Hamas werde "gegen dieses sogenannte Israel" kämpfen, droht auch Nizar Rayan, ein Hamasführer aus dem Gaza-Streifen, "unsere Märtyrer werden den Feind mitten in unserem von ihm besetzten Land treffen. Das Gewehr wird nicht ruhen. Wir sind alle Märtyrer. Die Rache wird kommen."
In Israel nimmt man diese Drohungen ernst. Die Sicherheitskräfte sind in Alarmbereitschaft.
Pierre Heumann ist Nahostkorrespondent der Schweizer Weltwoche.