Regierungswechsel in Großbritannien Stilbruch

Boris Johnson vor der Parteizentrale der Konservativen in London
Foto: Niklas Hallen/AFPDer Brexit verfolgt Theresa May bis zum Schluss. Bei 32 Grad im Schatten steht sie am Mittwochnachmittag vor dem Haus mit der Nummer 10 in der Londoner Downing Street, zum letzten Mal als Großbritanniens Premierministerin. Ihre Mitarbeiter haben sie drinnen soeben mit einem tosenden Applaus verabschiedet, das war bis auf die Straße zu hören.
May wendet sich jetzt noch einmal ans Volk, sie bedankt sich bei Politikern und Beamten, bei Polizisten, Lehrern und Menschen, die sich um Kranke kümmern. Am Ende bedankt sie sich auch noch bei ihrem Ehemann Philip, der sich direkt neben ihr postiert hat.
In diesem Moment brüllt einer der Demonstranten, die am Ende der Straße hinter einer Absperrung ausharren: "Stop Brexit!"
May zögert kurz, lächelt. Dann sagt sie: "Die Antwort darauf ist: Ich denke nicht."
Dabei hatte die Tory-Politikerin kurz zuvor selbst etwas zum EU-Austritt gesagt, dass man durchaus als Ansage an die rechten Hardliner ihrer Partei und natürlich an ihren Nachfolger durchgehen lassen kann - in einer ansonsten ziemlich unspektakulären Rede. Sie hoffe auf einen Brexit, sagte May, "der für das gesamte Vereinigte Königreich funktioniert". Soll wohl heißen: keine radikale Lösung, kein Austritt ohne Deal.
May war verlässlich, Johnson ist unberechenbar
Aber so ist das nun mal mit May und dem Brexit: In keinem der Lager, ob EU-Gegner oder Proeuropäer, konnte sie jemals nachhaltig punkten. Die einen trauten ihr nie über den Weg, weil sie selbst einst für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt hatte - und überhaupt zu Kompromissen bereit war. Die anderen konnten ihr nicht verzeihen, dass sie stur an einer harten Trennung von Brüssel samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion festhalten wollte.
Man kann May sicher Vieles vorwerfen: Sie hatte ihre Regierung nie im Griff, nahm Chaos und Demütigungen in Kauf - und damit auch die Beschädigung ihres Amtes. Sie scheute viel zu lange eine überparteiliche Lösung beim Brexit, um ihre zerstrittenen Tories nicht weiter zu spalten.
Mit ihrer sachlichen, ruhigen, manchmal fast langweiligen Art war sie jedoch fast schon die Ausgeburt an Verlässlichkeit - im Vergleich zu dem, was nun kommt.
Denn der Wechsel zu Johnson bedeutet längst nicht nur eine andere Politik an dieser oder jener Stelle. Mit Johnson zieht nun das Unberechenbare in die Downing Street, das Laute, das Aggressive, das manchmal Verlogene. Mit Johnson regiert fortan ein Populist das Königreich.
Im Video: Johnsons erste Rede als Premier
Den Unterschied kann man an diesem Mittwoch direkt erleben. May bringt zunächst routiniert ihre letzte Fragestunde im Unterhaus hinter sich, ehe sie mit leiser Stimme und wenig Regung vor die Presse tritt.
Ganz anders Johnson. Nach seinem Besuch bei der Queen am Regierungssitz angekommen, eilt der Premier zum Rednerpult und legt los. Der Brexit müsse her, "ohne wenn und aber", sagt er. Das Land brauche einen "besseren Deal", die Backstop-Notlösung für Nordirland geißelt er als antidemokratisch. Johnson spricht laut, fast poltert er, mehrfach fährt er mit der Hand durch die Luft. Es ist eine Wahlkampfrede zum Amtsantritt. Das Land erlebe einen "außergewöhnlichen Moment" in seiner Geschichte, sagt Johnson - und fordert die Briten vehement zu mehr Optimismus auf. "Die Arbeit beginnt jetzt."
Nun wäre Johnson nicht Johnson, wenn er sich nicht doch auch eine kleine Hintertür offenlassen würde. Beim Brexit hatte er stets dafür geworben, Großbritannien spätestens zum 31. Oktober aus der EU zu führen - notfalls auch ohne Deal. Jetzt sagt er, ein ungeregelter Austritt sei nur eine "weit entfernte Möglichkeit". Aber was heißt das schon?
Eine Regierung aus Hardlinern für Hardliner
Einige vermuten, Johnson werde im Amt pragmatischer agieren und sich beim Brexit mäßigen. Doch dann bekäme er großen Ärger mit seinen Anhängern. Eine radikalisierte Tory-Basis hat mit großer Mehrheit für Johnson gestimmt, die ebenfalls laut einer Umfrage den Zerfall von Partei und Königreich in Kauf nehmen würde, wenn dafür der Brexit kommt. Johnson wurde offensichtlich nicht trotz, sondern wegen seiner Rolle als Hau-drauf-Politiker gewählt.

Boris Johnson: Hardliner bekommen wichtige Posten
Foto: VICKIE FLORES/EPA-EFE/REXJedenfalls verzichtete er in seinen ersten Amtshandlungen auf große Geschenke an seine Gegner - in London und in Brüssel. Vielmehr versorgte er ausgewiesene Hardliner mit Spitzenjobs: Dominic Raab etwa, einen der schärfsten Brexiteers, machte er am Mittwoch zum Außenminister und de facto auch zum stellvertretenden Premier, auch wenn es diesen Posten formal nicht gibt. Priti Patel, von May einst noch aus dem Kabinett geworfen, wird Innenministerin. Sajid Javid, der einst zwar für Remain gestimmt hatte, aber noch nie sonderlich EU-begeistert war, übernimmt den Posten als Schatzkanzler. Johnsons gemäßigter Kontrahent Jeremy Hunt geht dagegen leer aus.
Dazu kommt diese brisante Personalie: Johnson holt Dominic Cummings in sein engstes Beraterteam - den Hauptstrategen hinter "Vote Leave", der zentralen Kampagne, die vor dem Referendum Stimmung für den Brexit gemacht hat. Cummings ist hochumstritten, gilt als besonders skrupellos.
Die Gefahr ist groß, das wird an diesem Tag einmal mehr deutlich, dass ein Premier wie Johnson die britische Gesellschaft weiter polarisiert. Im liberalen London macht sich schnell Wut breit. Schon während Johnsons Antrittsrede, brüllen Demonstranten abseits der Absperrung unaufhörlich. Am Abend versammeln sich nördlich des Stadtzentrums wohl Tausende Menschen zu einem Protestzug gegen den neuen Premier. Es sind viele junge Aktivisten darunter. Von einem roten Bus tönt Popmusik, ein Mann ruft den Slogan ins Mikrofon, der überall auf Schildern und T-Shirt zu lesen ist: "Fuck Boris".
Es ist Tag eins in der Ära Johnson.