Belästigungsvorwürfe überschatten Tory-Parteitag Panik in Downing Street

Boris Johnson ist bei Wählerinnen sehr unbeliebt
Foto: Jeff Overs/ BBC/ AFPAm Dienstag hat Boris Johnson der BBC einen Einblick in sein Seelenleben gewährt. Er sei "sehr traurig" über Vorwürfe, er habe Frauen sexuell belästigt, verkündete der britische Regierungschef vor laufender Kamera. Die Anschuldigungen seien "nicht wahr", ihm werde Unrecht getan: Noch in "jeder Organisation", an deren Spitze er stand, habe er sich stets in besonderem Maße um Frauen gekümmert.
Das Interview war bemerkenswert, Johnson brach darin mit seiner goldenen Regel, sich nicht öffentlich über sein Privatleben zu äußern. Dass er es nun doch tut, zeigt, wie sehr in den letzten Tagen die Panik in 10 Downing Street gewachsen sein muss.
Als sei der Brexit-Irrsinn nicht genug, häuften sich in den vergangenen Tagen Berichte darüber, dass Boris Johnson in der Vergangenheit in der Gegenwart von Frauen zudringlich geworden sein soll. Und diese Vorwürfe, auch wenn sie bislang nicht bewiesen sind, haben das Zeug dazu, ihn zu Fall zu bringen.
In Manchester, wo Johnsons konservative Partei seit Sonntag ihren jährlichen Parteitag abhält, entgeht praktisch kein Regierungsmitglied peinlichen Fragen nach dem Chef. Auf den "Fringes" genannten Nebenveranstaltungen, die über die Innenstadt verteilt sind, lassen sich Johnson-Vasallen bei verbalen Verrenkungen und Ausweichmanövern beobachten. Und wenn sie dem Premierminister dann doch einmal zu Seite springen, wie etwa die Tory-Abgeordnete Rachel Maclean, ernten sie dafür schallenden Protest. Maclean hatte sich mit der originellen Bemerkung zu Wort gemeldet, Johnson sei in Wahrheit ein Feminist.
Gedacht war das Ganze eigentlich anders. Manchester - das sollte ein grandios inszenierter Wahlkampfauftakt werden, auch wenn im Brexit-verrückten Königreich niemand weiß, wann diese Wahl eigentlich stattfinden wird. "Get Brexit Done", vollendet den Brexit, lautet das Parteitagsmotto der Downing-Street-Strategen, die für die Zeit nach dem EU-Austritt zig Milliarden aus dem Füllhorn versprechen: für Gesundheit, für Erziehung, für verarmte Kommunen, für benachteiligte Jugendliche. Kurzum: Für all jene Bereiche, die durch die bald zehnjährige brutale Austeritätspolitik diverser Tory-Regierungen nahezu ausgeblutet wurden.
Um die oppositionelle Labour-Partei in Schach zu halten, wollen die Konservativen sogar den Mindestlohn auf 10,50 Pfund anheben, 50 Cent mehr als Labour. "Wir sind die wahre Arbeiterpartei", rief Schatzkanzler Sajid Javid am Montag. Das Programm der Fringes, wo die Wohnungsnot, das Gesundheitssystem NHS und Pflege dominierten, las sich derweil, als sei es von den Labour-Sozialisten abgepaust.
Johnsons Frauenfeindlichkeit ist ein altbekanntes Problem
Aber noch bevor sich der Tory-Tross am Sonntag in Richtung Manchester in Bewegung setzte, wurden die Showpläne der Regierung von pikanten Erzählungen über den Regierungschef durchkreuzt. Den Anfang machte die "Sunday Times" mit detaillierten Angaben über Johnsons Beziehung zur US-Unternehmerin Jennifer Arcuri. Mit ihr soll Johnson in seiner Zeit als Londoner Bürgermeister nicht nur eine Affäre gehabt haben. Heikler sind Meldungen, wonach London & Partners, Johnsons damalige PR-Firma, Arcuris Firmen öffentliche Zuschüsse in fünfstelliger Höhe zugeschanzt haben soll. Zudem begleitete die Frau, angeblich auf Drängen der Londoner Stadtverwaltung, Johnson mehrfach auf Geschäftsreisen.
Noch bevor sich die Aufregung darüber gelegt hatte, schrieb die angesehene Journalistin Charlotte Edwardes, der Regierungschef habe sie vor 20 Jahren bei einem Diner unter dem Tisch unsittlich berührt und dasselbe auch mit einer zweiten Tischnachbarin getan. Kurz darauf meldete sich eine weitere Frau mit ähnlichen Vorwürfen.
Überraschend ist das alles zwar nicht: Die britische Öffentlichkeit ist seit vielen Jahren bestens über Johnsons außereheliche Eskapaden informiert, die er stets abstritt, bevor er sie doch einräumen musste. Kein Geheimnis sind auch seine zahllosen machohaften und frauenverachtenden Einlassungen der Vergangenheit. Kürzlich erst konnte die Nation nachlesen, wie Johnson seinen Vorvorgänger David Cameron beschrieb: als "mädchenhaften Streber".
Nur: Das Gros der Vorwürfe traf Johnson, als er noch Journalist und später konservativer Hinterbänkler war. Jetzt ist er Premierminister. Und es gibt Anzeichen dafür, dass Briten - und vor allem Britinnen - an dieses Amt andere Maßstäbe anlegen.
Dass Boris Johnson in Hinblick auf Wählerstimmen ein Frauenproblem hat, wurde bereits Ende September in einer für ihn verheerenden Umfrage deutlich. Demnach lehnen ihn deutlich mehr Frauen als Männer ab: 47 Prozent der Britinnen sagen inzwischen, ihnen sei der Regierungschef "zuwider", mehr als die Hälfte (51 Prozent) nennen ihn inkompetent, und nur noch 19 Prozent halten ihn für ehrlich. Und das war noch vor den jüngsten Anschuldigungen.
Um eine Wahl in den kommenden Monaten gewinnen zu können, braucht Johnson jedoch alle weiblichen und männlichen Wähler, die er irgendwie kriegen kann. Durch seinen beserkerhaften Brexit-Kurs der letzten Wochen hat er Meinungsforschern zufolge schon zahllose liberale Konservative verprellt. Sollten sich nun noch massenhaft Wählerinnen von ihm abwenden, könnte er als einer der am kürzesten amtierenden Regierungschefs in die britische Geschichte eingehen.
Mit Spannung wird in Manchester daher erwartet, ob und wie Johnson in seiner großen Abschlussrede am Mittwoch versuchen wird, die weibliche Wählerschaft zu gewinnen.
In Downing Street, so schreibt die "Times", versuche man, sich ein Beispiel an einem anderen politischen Schwerenöter zu nehmen: Bill Clinton. Nach der Affäre um die Praktikantin Monica Lewinsky habe dieser den Washingtoner Politzirkus gemieden und sich stattdessen direkt an die Amerikaner gewandt. Am Ende seien Clintons Zustimmungsraten sogar höher gewesen als vorher. Johnson, so heißt es, habe das Zeug dazu, dasselbe zu schaffen.