
Bosnien: Die blutigen Rosen von Sarajevo
Wahlen in Bosnien-Herzegowina Geister des Krieges
Die Fußwege im Zentrum von Sarajevo tragen die Narben der Vergangenheit, rote Farbspritzer sind im Boden eingelassen. An jedem dieser Orte rissen zwischen 1992 und 1995 die Explosionen von Granaten Menschen in den Tod.
Diese sogenannten "Rosen von Sarajevo" erinnern vielleicht auch an Edin und Samir. Das waren zwei Kinder - und Kerims Kalamujic beste Freunde. Der heute 32-Jährige sah beide sterben, damals im Krieg. Sie wurden Opfer der Scharfschützen.
Heute, viele Jahre später und kurz vor den Wahlen, muss er öfter an die toten Kumpels denken. Denn die Töne der Politiker werden jetzt immer schriller und unversöhnlicher. Themen der Vergangenheit, des Krieges beherrschen die Nachrichten, Opferzahlen werden überhöht und miteinander verrechnet.

Kerim Kalamujiç
Foto: Till MayerDie Politiker der serbischen Partei SNSD aus der Republika Srpska kokettieren unverhohlen mit einer Abspaltung von Bosnien-Herzegowina. Auch die kroatischen Nationalisten der HDZ BiH wettern gegen den komplexen, dezentralisierten Staat. Bei der SDA der Bosniaken und all den anderen Parteien und Wahlgruppierungen herrscht Misstrauen gegenüber den Konkurrenten.
Schon seit Jahresbeginn läuft das Wahlkampf-Getöse. Verschwörungsszenarien kursieren in der ethnisch gespalteten Medienlandschaft, Gerüchte über die Bildung paramilitärischer Einheiten. Nur wenige Parteien wie die Sozialdemokraten und die sozialliberale "Nasa stranka" (Unsere Partei) setzen nicht auf einen ethnischen oder nationalistischen Kurs. Die meisten nutzen Angst und Vorurteile zur Wählermobilisierung.
In allen Menschen hat der Krieg Wunden hinterlassen
Man muss sich Schicksale wie das von Kerim Kalamujic anhören, um zu verstehen, wie tief die Wunden noch immer sind. Er erzählt in einem Café im Herzen der Stadt vom Überleben.
Krieg, das waren die Matratzen vor den Fenstern der Wohnung, um den Scharfschützen die Sicht zu versperren.
Die Einschüsse in der Wohnzimmerwand, die es dann trotzdem gab.
Der Hunger, all die vielen Stunden im dunklen Keller.
Die dumpfen Einschläge der Granaten.
Das Zittern des Bodens, wenn eine in der Nähe detoniert.
Die Tränen der Mutter und der Schwester.
"Als Kinder brauchten wir unsere Auszeit von all dem Schrecken. Wir haben uns unsere eigene, glückliche Welt geschaffen. Dort haben wir gespielt, als wäre alles in Ordnung." Aber nichts war in Ordnung in den 1425 Tagen der Belagerung von Sarajevo.

Bosnien: Die blutigen Rosen von Sarajevo
Der kleine Samir konnte das nicht wissen. Wie Kerim ist er damals einfach ein Junge, der sich sein Recht zum Spielen nimmt. Und so spielen sie Verstecken. "Samir war darin ein Meister", erinnert sich Kerim heute. Nur einmal vergisst der Junge kurz, auf die Richtung zu achten, aus der der Tod kommen kann. Sie liegt direkt in seinem Rücken, der ist ungeschützt. Vor ihm suchen seine Freunde, keiner findet ihn. Nur der Mann in der anderen Richtung sieht, wie sich der Junge duckt, damit er nicht entdeckt wird. Der Scharfschütze drückt ab und trifft Samir in den Kopf. Er wird keine zehn Jahre alt.
Der kleine Edin stirbt, als er einen Ball hinterherläuft. "Wir haben im Hinterhof Fußball gespielt", sagt Kerim Kalamujic. Einer der Jungs tritt den Ball mit solcher Wucht, dass er auf die Straße fliegt. Es ist schwer zu beschreiben, wie wertvoll dieser Ball in jenen Tagen für die Kinder ist. Er ist ein Schatz, ein rundes Stück Freiheit. Ist er weg, dann war es das mit den Ballspiel. Sie würden keinen neuen bekommen. Woher auch, in der belagerten Stadt. Also rennt Edin los. "Nicht", rufen die anderen Kinder noch. Ein Schuss wirft Edin einfach im Laufen um. Als würde er stolpern.
Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos
Auch Kerim Kalamujic hätte in diesen Jahren der Belagerung sterben können, jeden Tag. Beim Wasserholen, wenn der Junge mit seiner Mutter losrennt. Ein Plastikkanister links, einen rechts in den Händen. Immer wieder gibt es Kreuzungen, Wege und Straßen, die von Scharfschützen unter Beschuss genommen werden können. Jeden Augenblick hätte eine Artilleriegranate in der Schule einschlagen können. Tausenden Kindern in Sarajevo ging es wie Kerim. Das Erlebte hat sie geprägt. Noch heute werden fast 7000 Menschen als Folge des Krieges in Bosnien-Herzegowina vermisst.
Die Kriegskinder sind jetzt Erwachsene. "Den Tod meiner Freunde werde ich nie vergessen", sagt Kerim Kalamujic. Zum ersten Mal hört man Schmerz in seiner Stimme. Nur ganz kurz, dann hat er sich wieder unter Kontrolle. Er sitzt vor seinem Kaffee, gegenüber steht ein leuchtend gelb gestrichenes Hotel. Nach dem Krieg war es eine ausgebrannte Ruine. Doch für echten Frieden braucht es mehr als frischen Beton, neue Fenster, Ziegel und Farbe.
Kerim Kalamujic hat der Krieg zu einem Kämpfer gemacht. Heute ist er Geschäftsmann, lebt in Bosnien und den USA. Ein Selfmade-Mann im IT-Bereich, ein Macher. Sein Erfolg ist eine Seltenheit in einem Land, in dem die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos ist. In dem 70 Prozent der Jugend keine Chancen hat, einen Job zu finden.
Der Krieg lebt im Wahlsystem fort
Auch weil sich die Politik weitgehend selbst lähmt. Der Krieg lebt im Wahlsystem fort: Ethnische Proporzregeln schließen sogar diejenigen als Kandidaten aus, die sich nur als Bürger des Staats und weder der bosnischen, der serbischen oder der kroatischen Ethnie zugehörig fühlen. Der Gesamtstaat, die Teilstaaten und die zehn Kantone haben jeweils eigene legislative und exekutive Strukturen. Das Gros der Parteien hat sich in diesem System eingerichtet und betreibt eine korrupte Klientelwirtschaft.
Trotzdem glaubt Kerim Kalamujic an ein gemeinsames Bosnien-Herzegowina. Er hegt keinen Hass auf Serben. "Für mich zählt keine Nationalität. Aber dass die Männer, die meine beiden Freunde erschossen haben, vielleicht heute an mir vorbeilaufen. Mir ins Gesicht sehen, ohne jemals eine Strafe zu erhalten. Das macht mich wütend", sagt er.
Von der Politik erwartet sich Kalamujic nicht allzu viel. Weder eine Aufarbeitung des Kriegs, noch, dass die Politiker an einem wirklichen gemeinsamen Staat arbeiten. Er will seine Firma weiter aufbauen, Jobs schaffen. Zukunft, statt der Geister des Krieges: "Das ist es, was ich für mein Land tun kann."