Folgen der Coronakrise in Brasilien
»Wie ihr in Europa die Flüchtlinge hasst, so hassen die Leute hier die Armen«
Sie sind Lehrer, Angestellte, Mütter – und sie sind obdachlos: In Brasilien stürzt die Mittelschicht ab, viele landen auf den Straßen São Paulos. Politiker kämpfen nun für ein bedingungsloses Grundeinkommen.
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für globale Probleme.
An dem Tag, an dem Tiago Ferreira de Almeiras normales Leben endete, packte er ein paar Klamotten und seine wichtigen Dokumente in einen Koffer. Sein Bett, den Fernseher, seine restlichen Sachen ließ er einfach zurück. An diesem Tag hatte Ferreiraseine Wohnung in Bela Vista verloren, einem Mittelklasseviertel von São Paulo.
Ferreira wusste nicht, wohin er gehen sollte. Schließlich, so erzählt er, lief er zum Platz vor der großen Kathedrale Sé im Zentrum der Stadt, wo viele Obdachlose schlafen. Dort legte er sich auf eine Decke.
In seiner ersten Nacht auf der Straße regnete es. Als Ferreira aufwachte, war seine Kleidung durchnässt und der Koffer mit den paar Klamotten und seinem Ausweis verschwunden.
Tiago Ferreira de Almeira verlor in der Krise seinen Job als Konditoreigehilfe
Foto: Nicola Abé
Ferreira stellte sich in der Dunkelheit irgendwo unter. Er hatte Hunger und Angst. Am nächsten Morgen traf er eine fremde Frau. »Sie hieß Maria«, sagt Ferreira. Sie kaufte ihm einen Burger bei McDonalds. »Da habe ich geweint.«
Bis Mai vergangenen Jahres arbeitete Ferreira, 29 Jahre alt, als Konditoreigehilfe in der brasilianischen Schokoladenfabrik Kopenhagen. Als die Firma während der Corona-Pandemie zahlreiche Mitarbeiter entließ, habe er nicht mehr genug Geld für die nächste Miete gehabt, erzählt er.
Zelte von Obdachlosen im Eingang zur juristischen Fakultät im Zentrum von São Paulo
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Seit Juni lebt Ferreira auf der Straße oder in Notunterkünften, schläft jede Nacht an einem anderen Ort. Er hat sich mit ein paar neuen Freunden zusammengetan, einer von ihnen habe seinen Job als Lehrer verloren. In Brasilien erfüllen längst nicht alle Angestellten die formalen Kriterien für Arbeitslosenhilfe durch den Staat.
Schon vor der Coronakrise strauchelte die Wirtschaft im bevölkerungsreichsten Land Südamerikas, erodierte die Mittelschicht und stieg die Zahl der Obdachlosen mit jedem Jahr.
Doch seit die Pandemie in Brasilien wütet, bekämpft durch einen halbherzigen Lockdown zu Beginn, seit das Land in eine schwere Wirtschaftskrise geschlittert ist und die Arbeitslosenrate Rekordniveau erreicht hat, ist die Zahl der Menschen, die auf den Straßen der großen Städte leben, geradezu explodiert.
Freiwillige Helfer schätzen den Anstieg in São Paulo, der größten und wirtschaftlich stärksten Stadt Südamerikas, auf 60 bis 70 Prozent. Offizielle Zahlen gibt es dazu noch keine. An den Essensausgaben für Obdachlose hat sich die Zahl der Wartenden teilweise mehr als verdreifacht. Eine NGO-Mitarbeiterin spricht von »Horrorszenarien«. Ein anderer berichtet: »Uns werden jetzt ständig Anfängerfragen gestellt. Die Leute wollen wissen, an welcher Straßenecke sie sicher schlafen können oder ob sie morgen wieder hierherkommen dürfen, um zu essen.«
Ferreira, der Konditorgehilfe, sitzt an einem Montagmorgen im Januar an einem Plastiktisch in einer Halle im Viertel Mooca, in der der katholische Pfarrer Julio Lancellotti mit Unterstützung der Stadtverwaltung Frühstück ausgibt. Ferreira ist zum ersten Mal hier. Er trinkt einen Orangensaft. Vor ihm liegen ein trockenes Brötchen und eine Packung Kekse.
Freiwillige Helfer verteilen Essen an Bedürftige
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
»Ich hätte nie in meinem Leben gedacht, dass ich mal in diese Situation komme«, sagt er, »und siehe da«, er schnipst mit den Fingern. Dann hat er Tränen in den Augen. Am schlimmsten seien der Hunger und das ständige Gefühl, dreckig zu sein. »Das ist die furchtbarste Erfahrung, die ich je in meinem Leben gemacht habe, und die größte Demütigung.«
Ein paar Meter weiter sitzt Luciana Batista, 40, und stillt ihren sechs Monate alten Sohn Gregory. Ihre Tochter Rebecca, fünf Jahre, hält sich stolz ein glitzerndes T-Shirt vor die Brust, eine Kleiderspende. Batista ist seit einem Monat und ein paar Tagen obdachlos und schläft derzeit in einer Unterkunft »mit 100 Frauen und 30 Kindern in einem Raum«, berichtet sie.
Die alleinerziehenden Mütter Caroline Francisco und Luciana Batista sind beide obdachlos
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Tagsüber muss sie dort raus. Batista hat ihren Job als Reinigungskraft in einem Geschäft verloren. Sie ist alleinerziehende Mutter und kommt jetzt jeden Tag hierher.
»Wir sehen immer mehr Familien mit kleinen Kindern, die obdachlos werden und in Baracken am Straßenrand hausen«, sagt Luiz Kohara Kukuzi, Direktor der Menschenrechtsorganisation Centro Gaspar Garcia. »Das ist eine große Veränderung.«
Viele informelle Jobs sind weggefallen. Aber auch Millionen registrierte Arbeiter haben ihre Stellen verloren, Kellner, Verkäufer und Fabrikarbeiter sind entlassen worden – die untere Mittelschicht rutscht ab. Die Arbeitslosigkeit, prognostiziert selbst die Regierung, könnte in diesem Jahr auf mehr als 18 Prozentsteigen. Das Schlimmste stehe erst noch bevor. »Was ich für die nächsten Monate erwarte, ist eine humanitäre Katastrophe«, sagt Kohara.
Denn die Regierung in Brasília hat die bis Dezember gezahlte monatliche Nothilfe eingestellt. 67 Millionen Brasilianer, fast ein Drittel der Bevölkerung, haben die Zahlungen von 600 Real (rund 90 Euro) jeden Monat in Anspruch genommen. »Das hat den Menschen in den Favelas geholfen, die Miete oder Nahrungsmittel zu bezahlen«, sagt Kohara. Ersparnisse hätten sie nicht. So fragil sei ihre Situation, dass sie nun von einem Tag auf den anderen auf der Straße landen könnten.
Zehntausende Menschen leben in São Paulo, der größten und wirtschaftlich stärksten Stadt Südamerikas, in Hauseingängen, auf öffentlichen Plätzen, in Autobahntunneln, unter Brücken und auf Gehsteigen
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Schon vor der Krise bevölkerten Zehntausende in São Paulo jede Nische, öffentliche Plätze, Autobahntunnel, Verkehrsinseln, Brücken, Hauseingänge, schliefen in Zelten, die sie zu Weihnachten mit Lichterketten verzierten, oder Baracken aus Plastikplanen auf Gehsteigen.
Manche bauten ihre Habseligkeiten vor den Zelten auf: ein fast leeres Deo oder Duschgel, eine Barbie oder ein Kuscheltier. Andere lagen nur auf Pappkartons in der Sonne auf dem Gehsteig – gehüllt in einen grauen Stoff, mit dem man bei Malerarbeiten den Boden abdeckt, ihre Exkremente ein paar Meter weiter. An einem Sonntagmorgen schläft ein schwarzes Mädchen bäuchlings auf dem Gehsteig, vielleicht zwölf Jahre alt, mit nacktem Unterkörper.
Elvira Ferreira da Silva hält ihr Zelt stets sauber und aufgeräumt
Foto:
Rogério Vieira / DER SPIEGEL
24.000 Obdachlose sollen es laut offiziellen Zahlen in São Paulo vor der Pandemie gewesen sein. In den vier Jahren davor gab es demnach bereits einen Anstieg um 65 Prozent. Hilfsorganisationen halten die offiziellen Zahlen für stark untertrieben.
Diese dystopische Metropole der Ungleichheit findet keine Antworten auf die Krise
So viele Neue sind hinzugekommen, dass scheinbar jeder freie Fleck in dieser ohnehin bis an die Schmerzgrenze verdichteten Stadt nun bewohnt, eingenommen ist. São Paulo, diese dystopische Metropole der Ungleichheit, die Stadt mit der größten privaten Hubschrauberflotte der Welt und mit Millionen Menschen, die in Favelas leben, findet keine Antworten auf die Krise.
Zu Beginn der Pandemie hat die Stadtverwaltung an ein paar Orten Duschen, Toiletten und Brunnen zum Waschen von Kleidung oder Geschirr aufgestellt. Eine Initiative, Obdachlose wie in London oder Hamburg in Hotels unterzubringen, scheiterte schon allein daran, dass es kaum Angebote vonseiten der Hotels gab. Für einen Kommentar stand das zuständige Menschenrechtssekretariat der Stadtverwaltung nicht zur Verfügung.
Die Zahl der Menschen an den Essensausgaben hat sich mehr als verdreifacht
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Und die Politik setzt weiterhin auf Abschreckung und Vertreibung. In der Nähe der Bahnhofsstation Luz im Zentrum der Stadt befindet sich »Cracolandia«, eine Gegend, in der besonders viele drogenabhängige Obdachlose leben. Immer wieder greift die Polizei die Menschen hier mit Tränengas und Pfefferspray an und vertreibt sie mit Gewalt, selbst während der Pandemie.
Auch rund um den Platz vor der Kathedrale Sé wird niemand so sehr gefürchtet wie die Sicherheitskräfte: Jugendliche Obdachlose berichten, dass Polizisten Feuer legen, ihnen die Zelte wegnehmen oder sie verprügeln.
Die Reichen der Stadt haben längst die Flucht in die Höhe ergriffen. Sie entfernen sich mehr und mehr von den Straßen, den Abgasen, den dauernden Staus, dem Lärm und Dreck, ziehen sich zurück in die Penthouses der Hochhaustürme und die Gated Communities, in ihre Hubschrauber und Privatflieger.
Die Mittelschicht erträgt das Elend am Boden. Manche geben den Obdachlosen ihre aussortierten Hemden oder kaufen eine Tüte Milch im Supermarkt. Doch besonders in jenen Vierteln, in denen Obdachlosigkeit und wirtschaftliche Interessen aufeinanderprallen, wo Immobilienfirmen die Gentrifizierung vorantreiben wollen, kommt es zu Konflikten. Immer wieder werden Feuer gelegt oder wird Obdachlosen mit Glasscherben oder Gift versetztes Essen gegeben.
Selbst die Helfer fühlen sich gefährdet. Padre Lancellotti, 72, der katholischer Pfarrer, der seit mehr als 30 Jahren eine kleine Kirche im Viertel Mooca betreibt und der sich jeden Morgen außer samstags seine pinkfarbene Gasmaske umschnallt und Frühstück verteilt, berichtet von Morddrohungen in sozialen Medien und von Beschimpfungen auf der Straße. »Das ist der Hass auf die Armen«, sagt Lancellotti, »wie ihr in Europa die Flüchtlinge hasst, so hassen die Leute hier die Armen.« Er spricht von »täglicher, institutionalisierter systematischer Gewalt gegen Obdachlose«.
Für seine Arbeit wird Padre Lancellotti in den sozialen Medien bedroht und auf der Straße angefeindet. »Das ist der Hass auf die Armen«, sagt er.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Der Politiker Eduardo Suplicy, derzeit für die Arbeiterpartei im Stadtrat in São Paulo, setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, die Situation der Straßenbewohner zu verbessern. Im vergangenen Jahr brachte er ein Gesetz durch den Stadtrat, das die Menschenwürde und die Bürgerrechte der Obdachlosen stärken soll. Bald wird über ein weiteres Gesetzesvorhaben abgestimmt, das feste Normen für den Umgang mit ihnen festlegt – an die sich die Behörden dann halten sollen.
Doch wie schwierig es mitunter ist, Gesetze auch wirklich in der Realität umzusetzen, zeigt sich ausgerechnet an Suplicys größtem Erfolg: Bereits vor 17 Jahren schrieb er als Senator in Brasília ein Gesetz, wonach jeder brasilianische Bürger ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten soll. Das Gesetz wurde vom Kongress verabschiedet und vom damaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva unterzeichnet – und niemals angewendet.
Obdachlose im historischen Zentrum von São Paulo nahe der Kathedrale Sé
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
»Jeden Tag sehen wir mehr Menschen auf den Straßen von São Paulo«, sagt Suplicy, »deshalb ist genau jetzt der Moment gekommen, um Konzepte wie das bedingungslose Grundeinkommen einzuführen.« Dafür kämpft er nun erneut mit aller Kraft. Und er sieht sich auf dem Erfolgsweg: Suplicy ist jetzt Ehrenvorsitzender einer parteiübergreifenden Gruppe von mehr als 220 Abgeordneten im brasilianischen Parlament, die sich im vergangenen Jahr formiert hat, zur »Verteidigung des bedingungslosen Grundeinkommens«. Allerdings muss die Regierung des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro dem Vorhaben zustimmen.
»Die finanzielle Nothilfe in ein Grundeinkommen zu verwandeln und permanent zu machen, wäre der richtige Schritt«, sagt Kohara von der Hilfsorganisation Centro Gaspar Garcia, die auch ein Aussteigerprogramm für Obdachlose betreibt. In einer Gesellschaft, die so strukturiert sei wie die brasilianische, in der ein großer Anteil der Menschen »heute arbeitet, um morgen zu essen«, also extrem vulnerabel sei, könne ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Lösung sein – sofern es hoch genug angesetzt sei.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
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Leben auf den Straßen von São Paulo
»Während der Nothilfezahlungen haben wir sehr positive Effekte gesehen. Einige Obdachlose haben sogar zusammengelegt, sich eine Wohnung gemietet und eine Wohngemeinschaft gegründet«, berichtet Kohara.
»Auf der Straße zu landen, ist einfach, der Weg zurück wird mit jedem Monat schwieriger«, sagt eine seiner Kolleginnen. Mit jedem Monat auf der Straße verringere sich die Chance auf ein normales Leben.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel Globale Gesellschaft berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa - über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird über drei Jahre von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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Der katholische Pfarrer Julio Lancellotti verteilt Frühstück an Obdachlose in Mooca, São Paulo
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Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Tiago Ferreira de Almeira verlor in der Krise seinen Job als Konditoreigehilfe
Foto: Nicola Abé
Zelte von Obdachlosen im Eingang zur juristischen Fakultät im Zentrum von São Paulo
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Freiwillige Helfer verteilen Essen an Bedürftige
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Die alleinerziehenden Mütter Caroline Francisco und Luciana Batista sind beide obdachlos
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Zehntausende Menschen leben in São Paulo, der größten und wirtschaftlich stärksten Stadt Südamerikas, in Hauseingängen, auf öffentlichen Plätzen, in Autobahntunneln, unter Brücken und auf Gehsteigen
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Elvira Ferreira da Silva hält ihr Zelt stets sauber und aufgeräumt
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Die Zahl der Menschen an den Essensausgaben hat sich mehr als verdreifacht
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Für seine Arbeit wird Padre Lancellotti in den sozialen Medien bedroht und auf der Straße angefeindet. »Das ist der Hass auf die Armen«, sagt er.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Obdachlose im historischen Zentrum von São Paulo nahe der Kathedrale Sé
Gisele Thomás lebt seit etwa einem halben Jahr auf der Straße. Vor der Pandemie arbeitete sie als Stylistin in einem Brautmodengeschäft. Sie verdiente gut, konnte sich ein eigenes Apartment leisten. Es war ihr Traumjob.
Mit siebzehn war Gisele Thomás, eine transsexuelle Frau, aus einer Kleinstadt nach São Paulo gezogen, um in der Modebranche zu arbeiten. Seither hatte sie immer ihr eigenes Geld verdient, ihre Ausbildung selbst bezahlt. Als der Laden zu Beginn des Lockdowns Insolvenz anmeldete, verkaufte sie all ihre Möbel und bezahlte die letzte Miete. Danach ging sie auf die Straße, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
2 / 12
Bruno Aparecido do Barbosa da Silva, 25 Jahre alt, lebt seit etwa neun Jahren unter einer Autobahnbrücke im Zentrum von São Paulo.
Er ist großer Filmfan. Sein Filmlexikon »1001 Filme, die du gesehen haben musst, bevor du stirbst« trägt er immer mit sich herum. Er kennt alle Regisseure und ihre Werke – von Wim Wenders über Michael Haneke bis Steven Spielberg. Sein Lieblingsfilm ist »Black Swan« mit Natalie Portman.
Von allen Filmen hat er nur die Trailer gesehen.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
3 / 12
Marcella Fernandez, 42 Jahre alt, lebt mit ihren Kindern Artur, vier Jahre, und Stella, zwei Jahre, in einem Igluzelt im Zentrum von São Paulo.
Die Familie wohnt seit etwa zwei Jahren auf der Straße. Ihr Haus in einer Favela war abgebrannt.
Fernandez ist alleinerziehende Mutter, da ihr Mann bei einem Streit vor ein paar Monaten erstochen wurde, einige Meter von dem Platz entfernt, an dem sie jetzt ihr Zelt aufgeschlagen hat.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
4 / 12
Rodrigo Augusto de França, 34, sitzt auf den Stufen der historischen Kathedrale Sé im Zentrum von São Paulo. Er lebt auf der Straße, seitdem er 13 Jahre alt ist, damals starb sein Vater. Seit der Pandemie sei es schwieriger geworden mit dem Betteln. Bis vor Kurzem hatte er sein eigenes blaues Zelt. »Die Polizei hat es mitgenommen«, sagt er.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
5 / 12
Aline Belo Rocha, 21, lebt seit Jahren immer wieder auf der Straße. Ein Mann habe ihr vor einem Supermarkt fünf Real geben wollen. Er gab das Geld dann einem Sicherheitsmann, der es an sie weiterreichte. Sie weiß nicht, ob das wegen der Pandemie war »oder ob er mich eklig fand«.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
6 / 12
Bruna Horana, 16, im sechsten Monat schwanger, lebt in einem Zelt in der Nähe der Kathedrale Sé. Sie ist hier, um Kleidung und Windeln für ihr Baby zu sammeln, und plant, danach in ihre Favela zurückzukehren.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
7 / 12
Caroline Francisco, 23, lebt mit ihren Kindern David, drei Jahre, und Anna Caroline, ein Jahr alt, in einer Obdachlosenunterkunft. Vorher hatte sie Gelegenheitsjobs. Mal putzte sie, mal verteilte sie Flyer. Sie bedankt sich bei Padre Lancellotti für ein paar Klamotten und scherzt: »Aber Vater, ich brauche eine Wohnung.«
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
8 / 12
Fabio Junior Rodrigues, 44, lebte 25 Jahre lang auf der Straße im sogenannten Cracolandia, einer Gegend rund um den Bahnhof Luz. »Crack zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendbrot, das war mein Leben«, sagt er. Ein Pfarrer habe ihn »gerettet«. Jetzt schläft er in einer Unterkunft für alte Leute und holt seinen Schulabschluss nach.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
9 / 12
Die Obdachlosen im historischen Zentrum von São Paulo ernähren sich unter anderem von Reis und Fleischabfällen aus dem Supermarkt, hauptsächlich Fett, die sie vor Ort über einem Feuer zubereiten. Sie haben Angst vor privaten Essensspenden. Immer wieder kommt es vor, dass Obdachlosen mit Gift oder Glasscherben versetztes Essen gegeben wird.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
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An den Essensausgaben für Obdachlose hat sich die Zahl der Wartenden mehr als verdreifacht. Die Stadtverwaltung hat zu Beginn der Pandemie ein paar Duschen und Toiletten aufgestellt.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
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»Auf der Straße musst du dich aufführen wie ein Kommandant«, sagt Elvira Ferreira da Silva, 63, »du musst dein Territorium verteidigen.« »Miss Vivi« lebt seit mehreren Jahren allein auf der Straße. Wegen psychischer Probleme hatte sie ihren Job in einer Wäscherei verloren. Sie ärgert sich über die vielen neuen Obdachlosen. »Sie stehlen, und dann kommt die Polizei. Neulich haben sie mich nachts aus dem Zelt bugsiert, da war ich gerade nackt.«
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
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»Miss Vivi« hält ihr Zelt stets sauber und aufgeräumt. Dass Obdachlose mit Dreck in Verbindung gebracht würden, verletze sie.
Foto:
Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Gisele Thomás lebt seit etwa einem halben Jahr auf der Straße. Vor der Pandemie arbeitete sie als Stylistin in einem Brautmodengeschäft. Sie verdiente gut, konnte sich ein eigenes Apartment leisten. Es war ihr Traumjob.
Mit siebzehn war Gisele Thomás, eine transsexuelle Frau, aus einer Kleinstadt nach São Paulo gezogen, um in der Modebranche zu arbeiten. Seither hatte sie immer ihr eigenes Geld verdient, ihre Ausbildung selbst bezahlt. Als der Laden zu Beginn des Lockdowns Insolvenz anmeldete, verkaufte sie all ihre Möbel und bezahlte die letzte Miete. Danach ging sie auf die Straße, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Bruno Aparecido do Barbosa da Silva, 25 Jahre alt, lebt seit etwa neun Jahren unter einer Autobahnbrücke im Zentrum von São Paulo.
Er ist großer Filmfan. Sein Filmlexikon »1001 Filme, die du gesehen haben musst, bevor du stirbst« trägt er immer mit sich herum. Er kennt alle Regisseure und ihre Werke – von Wim Wenders über Michael Haneke bis Steven Spielberg. Sein Lieblingsfilm ist »Black Swan« mit Natalie Portman.
Von allen Filmen hat er nur die Trailer gesehen.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Marcella Fernandez, 42 Jahre alt, lebt mit ihren Kindern Artur, vier Jahre, und Stella, zwei Jahre, in einem Igluzelt im Zentrum von São Paulo.
Die Familie wohnt seit etwa zwei Jahren auf der Straße. Ihr Haus in einer Favela war abgebrannt.
Fernandez ist alleinerziehende Mutter, da ihr Mann bei einem Streit vor ein paar Monaten erstochen wurde, einige Meter von dem Platz entfernt, an dem sie jetzt ihr Zelt aufgeschlagen hat.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Rodrigo Augusto de França, 34, sitzt auf den Stufen der historischen Kathedrale Sé im Zentrum von São Paulo. Er lebt auf der Straße, seitdem er 13 Jahre alt ist, damals starb sein Vater. Seit der Pandemie sei es schwieriger geworden mit dem Betteln. Bis vor Kurzem hatte er sein eigenes blaues Zelt. »Die Polizei hat es mitgenommen«, sagt er.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Aline Belo Rocha, 21, lebt seit Jahren immer wieder auf der Straße. Ein Mann habe ihr vor einem Supermarkt fünf Real geben wollen. Er gab das Geld dann einem Sicherheitsmann, der es an sie weiterreichte. Sie weiß nicht, ob das wegen der Pandemie war »oder ob er mich eklig fand«.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Bruna Horana, 16, im sechsten Monat schwanger, lebt in einem Zelt in der Nähe der Kathedrale Sé. Sie ist hier, um Kleidung und Windeln für ihr Baby zu sammeln, und plant, danach in ihre Favela zurückzukehren.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Caroline Francisco, 23, lebt mit ihren Kindern David, drei Jahre, und Anna Caroline, ein Jahr alt, in einer Obdachlosenunterkunft. Vorher hatte sie Gelegenheitsjobs. Mal putzte sie, mal verteilte sie Flyer. Sie bedankt sich bei Padre Lancellotti für ein paar Klamotten und scherzt: »Aber Vater, ich brauche eine Wohnung.«
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Fabio Junior Rodrigues, 44, lebte 25 Jahre lang auf der Straße im sogenannten Cracolandia, einer Gegend rund um den Bahnhof Luz. »Crack zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendbrot, das war mein Leben«, sagt er. Ein Pfarrer habe ihn »gerettet«. Jetzt schläft er in einer Unterkunft für alte Leute und holt seinen Schulabschluss nach.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
Die Obdachlosen im historischen Zentrum von São Paulo ernähren sich unter anderem von Reis und Fleischabfällen aus dem Supermarkt, hauptsächlich Fett, die sie vor Ort über einem Feuer zubereiten. Sie haben Angst vor privaten Essensspenden. Immer wieder kommt es vor, dass Obdachlosen mit Gift oder Glasscherben versetztes Essen gegeben wird.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
An den Essensausgaben für Obdachlose hat sich die Zahl der Wartenden mehr als verdreifacht. Die Stadtverwaltung hat zu Beginn der Pandemie ein paar Duschen und Toiletten aufgestellt.
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
»Auf der Straße musst du dich aufführen wie ein Kommandant«, sagt Elvira Ferreira da Silva, 63, »du musst dein Territorium verteidigen.« »Miss Vivi« lebt seit mehreren Jahren allein auf der Straße. Wegen psychischer Probleme hatte sie ihren Job in einer Wäscherei verloren. Sie ärgert sich über die vielen neuen Obdachlosen. »Sie stehlen, und dann kommt die Polizei. Neulich haben sie mich nachts aus dem Zelt bugsiert, da war ich gerade nackt.«
Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL
»Miss Vivi« hält ihr Zelt stets sauber und aufgeräumt. Dass Obdachlose mit Dreck in Verbindung gebracht würden, verletze sie.