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Brasilien: Parlament stimmt für Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff

Foto: MARCELO BASSUL/ AFP

Parlament gegen Präsidentin in Brasilien Aufstand der Scheinheiligen

Brasiliens Parlament will Präsidentin Rousseff des Amts entheben. Dabei wird gegen die meisten Kongressmitglieder selbst ermittelt. In dem Konflikt geht es um etwas anderes.

Brasiliens Kongress zeigt sein wahres Gesicht. Die Mehrheit der Abgeordneten hat nicht nur für die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff votiert. Die Parlamentarier haben mit verfassungsrechtlich fragwürdigen Mitteln das havarierte Staatsschiff Brasilien auf einen strammen Rechtskurs gebracht.

Die meisten Abgeordneten beriefen sich bei der Stimmabgabe auf Gott und die Familie. Jair Bolsonaro verteidigte gar in flammenden Worten einen der schlimmsten Folterer der Militärdiktatur. Andere warnten vor der kommunistischen Gefahr, die von der linken Arbeiterpartei PT ausgehe. Der PT gehört Rousseff ebenso an wie Ex-Präsident Lula.

Rousseff soll die Haushaltszahlen geschönt und illegal Spenden eingesetzt haben. Doch es geht auch um etwas anderes: Ihr knapper Wahlsieg vor zwei Jahren täuschte darüber hinweg, dass ein großer Teil der brasilianischen Gesellschaft strukturell konservativ gesinnt ist.

Video: Rousseff verliert Votum über Amtsenthebungsverfahren

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Der Einfluss evangelikaler Kirchen, die im größten Land Lateinamerikas beständig an Einfluss gewinnen, war nun auch in den Auftritten vieler Abgeordneter unübersehbar - ebenso wie die Scheinheiligkeit, die vielen dieser Prediger eigen ist. "Gott erbarme sich unseres Landes!", rief ausgerechnet der mächtige evangelikale Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der vor dem Obersten Bundesgerichtshof wegen Korruption angeklagt ist. Er soll 40 Millionen US-Dollar Schmiergelder kassiert haben und mehrere Konten in der Schweiz besitzen.

Gegen 60 Prozent der 594 Kongressmitglieder laufen Verfahren, unter anderem wegen Korruption, Stimmenkauf, Entführung und Mord. Als "Orgasmus eines verfaulten Systems" bezeichnete der Kolumnist Clovis Rossi in der Zeitung "Folha de Sao Paulo" den Amtsenthebungsprozess gegen Rousseff.

Parlamentschef Cunha wird automatisch zum Vizepräsidenten der Nation befördert, wenn das Absetzungsverfahren erfolgreich ist und der jetzige Vize Michel Temer die Macht übernimmt - es sei denn, der Ethikausschuss des Kongresses entzieht ihm vorher den Parlamentsvorsitz. Auch gegen Temer laufen Ermittlungen, auch gegen ihn ist ein Impeachment anhängig. Das sind nicht gerade ideale Voraussetzungen, um die tief gespaltene Nation zu einen.

Posten und Pfründe

Die Abgeordneten, die für Rousseffs Impeachment gestimmt haben, werden Temer jetzt die Rechnung präsentieren: Sie wollen Posten und Pfründe. Viele von ihnen erhoffen sich, dass mit dem Sieg der Opposition auch die Operation Lava Jato sanft entschlummert, die Ermittlungen in dem gigantischen Korruptionsskandal um den Ölkonzern Petrobras.

Richter Sérgio Moro, der die Ermittlungen leitet, hat mitgeholfen, Rousseff und die PT in die Enge zu treiben. Damit hat er in den Augen vieler Parlamentarier seine Schuldigkeit getan. Viele Demonstranten, die Moro unterstützen, haben zwar angekündigt, dass sie weiter gegen Korruption und für den Richter auf die Straße gehen werden. Doch mit der Abstimmung im Parlament hat die Protestbewegung vermutlich ihren Höhepunkt erreicht. Die Absetzung der Präsidentin ist in greifbare Nähe gerückt, jetzt richten sich alle Augen auf Vize Temer und die zu erwartende neue Regierung.

Noch stehen dem Machtwechsel in Brasília allerdings einige Hürden entgegen: Über das eigentliche Impeachment entscheidet der Senat. Bis Mitte Mai werden die Senatoren abstimmen müssen, ob sie das Verfahren eröffnen, dafür reicht eine einfache Mehrheit. Das Ergebnis der Parlamentsabstimmung in der Nacht von Sonntag auf Montag fiel allerdings so deutlich aus, dass die Senatoren sich kaum gegen das Votum der Abgeordneten stemmen werden.

Stimmt der Senat zu, wird die Präsidentin sechs Monate vom Amt suspendiert. In dieser Zeit kann sie ihre Verteidigung vorbereiten. Für die finale Abstimmung ist eine Zweidrittelmehrheit im Senat nötig. Der gesamte Prozess könnte sich also bis Oktober oder November hinziehen.

Rousseffs Hoffnung

Präsidentin Rousseff hat mehrmals angekündigt, dass sie nicht zurücktreten werde. Sobald der Senat über die Aufnahme des Impeachment entscheidet, wird sie jedoch zu einem politischen Zombie. Sie darf zwar weiter im Palácio de Alvorada wohnen, der offiziellen Residenz. Doch der Zugang zum Präsidentenpalast ist ihr verwehrt, politisch ist sie "aus dem Spiel", wie sie es selbst formuliert hat.

Ihre einzige Hoffnung beruht darauf, dass es der Arbeiterpartei PT und Ex-Präsident Lula gelingt, genügend politischen Druck gegen den "Putsch des Parlaments" aufzubauen. Dann wäre es theoretisch möglich, dass der Senat der Entscheidung des Abgeordnetenhauses widerspricht und Rousseff wieder einsetzt.

Soziale Bewegungen und Gewerkschaften werden gegen das Impeachment auf die Barrikaden gehen; Lula wird versuchen, mit dem Kampf gegen den "Putsch des Parlaments" Stimmen für eine Kandidatur bei den nächsten Wahlen 2018 zu sammeln. Allerdings sitzt ihm jetzt wieder Richter Sérgio Moro im Nacken. Wenn Lula keinen Ministerposten bekleidet, ist erneut der Richter aus Curitiba für Ermittlungen gegen ihn zuständig. Er wird alles daran setzen, den Ex-Präsidenten hinter Gittern zu bringen.

Politiker, die der Regierung nahestehen, brachten vergangene Nacht noch eine weitere Variante ins Spiel: Der Nachrichtendienst der "Folha de Sao Paulo" berichtet, dass die PT-Spitze erwägt, einen Vorstoß Richtung Neuwahlen zu unternehmen. Rousseff könnte einen Gesetzentwurf einbringen, der ihr Mandat um zwei Jahre verkürzt und den Weg für Neuwahlen freimacht. Die könnten dann zusammen mit den im Oktober anstehenden Kommunalwahlen abgehalten werden.

Mehrere Abgeordnete haben während der Abstimmung in der vergangenen Nacht deutlich gemacht, dass sie Neuwahlen für den besten Weg aus der Krise halten. Allerdings wäre diese Lösung wohl nur mittels einer Verfassungsänderung möglich. Vizepräsident Temer und die Opposition werden sich kaum darauf einlassen: Sie sind der Macht ohne Wahlen zum Greifen nahe gekommen.

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