Deutsche Historikerin zum Brexit "Cameron hat ein verantwortungsloses Spiel gespielt"

David Cameron
Foto: STEFAN WERMUTH/ REUTERSDas ist passiert:• 51,9 Prozent der britischen Wähler haben für den Austritt des Landes aus der Europäischen Union gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag bei mehr als 70 Prozent.
• Premier David Cameron hat seinen Rücktritt für Oktober angekündigt.
• Politiker aus Schottland und Nordirland wollen in der EU bleiben.
• Das Pfund verliert dramatisch an Wert, Aktienkurse weltweit stürzten ab.
• Rechtspopulisten in ganz Europa freuen sich und fordern nun ebenfalls Volksabstimmungen über die EU.

Helene von Bismarck, Jahrgang 1981, beschäftigt sich als Historikerin und Autorin mit Großbritanniens Rolle in der Welt. 2011 promovierte sie an der Humboldt-Universität in Berlin mit einer Arbeit über die letzten Jahre der britischen Imperialherrschaft im Persischen Golf.
Derzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt über Margaret Thatcher, Jacques Delors und den Wettstreit verschiedener Europakonzeptionen während der Achtzigerjahre.
SPIEGEL ONLINE: Frau von Bismarck, die Briten haben nach 43 Jahren tatsächlich für einen EU-Austritt gestimmt. Wie konnte das passieren?
Bismarck: Seit den Achtzigerjahren berichtet die britische Boulevardpresse sehr negativ über die EU, Politiker aller Parteien haben die EU als Sündenbock benutzt, für alles, was schiefläuft. Diese Stimmungsmache hinterlässt Spuren. Aber der eigentliche Auslöser des Brexits war Premier Cameron. Um seine eigene politische Zukunft in der konservativen Partei zu sichern, machte er das Referendum zum Wahlkampfversprechen. Cameron wollte damit die parteiinternen Euro-Skeptiker, die es seit den Achtzigerjahren gibt, zum Schweigen bringen, indem er ihnen zeigt: Ich nehme eure Ängste ernst, aber seht her: Die Bevölkerung will etwas anderes, nämlich in der EU bleiben. Cameron hat ein verantwortungsloses Spiel gespielt.
SPIEGEL ONLINE: Kaum waren die Briten 1973 in der Europäischen Gemeinschaft (EG), gab es 1975 die erste Volksabstimmung darüber, ob man nicht doch wieder austreten solle. Damals ging das Referendum pro EG aus. Was ist heute anders als damals?

David Cameron nach seiner Rücktrittsankündigung
Foto: Daniel Leal-Olivas/ APBismarck: Die Europäische Gemeinschaft heute ist eine andere als in den Siebzigerjahren. Die EU greift viel stärker in das Leben der Menschen ein. Die Angst vor zu viel Regulierung war auch für viele, die Remain gestimmt haben, real. Mit dieser Sorge konnten die EU-Gegner spielen, in dem sie behaupteten, die einzigen Errungenschaften der EU seien Normen für Glühbirnen und Bananen. Anders als 1975 war die Debatte von großer Aggressivität geprägt. Das hat die politische Kultur dauerhaft beschädigt. Außerdem hat die Flüchtlingskrise dem Leave-Lager in die Hände gespielt - Farage und Johnson haben Fremdenfeindlichkeit genährt. Erschreckend waren übrigens auch die antideutschen Ressentiments. Es gab Stimmen im Brexit-Wahlkampf, die behaupteten, die EU sei ein imperiales Projekt Deutschlands, das damit die Politik Hitlers fortsetzen wolle.
SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielt der Zeitpunkt des Eintritts Großbritanniens in die EG für die historische Europaskepsis? 1973 stagnierte die Wirtschaft in Europa, die große Euphorie war erloschen.
Bismarck: Entscheidend war eher die Tatsache, dass Großbritannien in den Sechzigerjahren zweimal in die Gemeinschaft wollte, aber von den Franzosen abgelehnt wurde. Britische Historiker haben das als nationales Trauma bezeichnet. Die Begründung des damaligen französischen Präsidenten de Gaulle für sein Veto war, dass die Briten eben anders seien als der Rest der Europäer wegen ihres Selbstverständnisses als Weltmacht mit Empire. Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der britischen Europaskeptiker. Von ihnen wird ja immer noch die globale Sonderstellung Großbritanniens betont, obwohl es das Empire längst nicht mehr gibt und das politische Gewicht des Commonwealth gering ist.
SPIEGEL ONLINE: Von Beginn an eine Fehlkonstruktion - haben die Briten vielleicht nie in die EU gepasst?

Anti-EU-Wähler in Großbritannien
Foto: NEIL HALL/ REUTERSBismarck: Bei einer EU der 28 - jetzt 27 - überzeugt mich dieses Argument nicht. Warum sollten etwa die Portugiesen besser in die EU passen als die Briten? Es gibt trotzdem Besonderheiten der britischen Geschichte, die dafür gesorgt haben, dass die Begeisterung für Europa kleiner war als in anderen Mitgliedsländern. Zwar hat Großbritannien im Zweiten Weltkrieg sehr schlimme Opfer bringen müssen, aber das Land war nie besetzt. Dadurch war die Motivation zu Europa als Friedensprojekt kleiner als in Frankreich oder eben Deutschland.
Und anders als für die osteuropäischen Länder war die EU für Großbritannien kein Demokratisierungsprojekt. Was aktuell oft vergessen wird: Auch die Briten haben die EU zu dem gemacht, was sie heute ist. Es war Margaret Thatcher, die darauf gedrängt hat, dass der gemeinsame Markt vollendet wurde, dass es mehr Europa gibt statt weniger. Dass der europäische Integrationsprozess überhaupt so einen Quantensprung gemacht hat, ist auch den Briten zu verdanken.
SPIEGEL ONLINE: Zeigt der Brexit, dass sich die EU als politisches Projekt überlebt hat?
Bismarck: Nein. Die Ukrainekrise macht auf dramatische Weise deutlich, dass Frieden auf unserem Kontinent nicht selbstverständlich ist. Aber der Brexit hat gezeigt, dass die nationalen Politiker sich viel intensiver um ihre Bürger bemühen müssen, um eine Austrittskettenreaktion zu verhindern. Wir müssen mehr denn je für Europa kämpfen.
SPIEGEL ONLINE: Was ist denn die EU politisch ohne Großbritannien und was ist GB ohne die EU?
Bismarck: Für Großbritannien bedeutet der Brexit, dass der rechte Flügel der Tories gewonnen hat. Die Lage ist gefährlich: Boris Johnson hat nicht nur eine ähnliche Frisur wie Donald Trump, er macht auch ein ähnlich populistische Politik. Die britische Gesellschaft und alle Parteien sind tief gespalten. Außerdem droht der Zerfall Großbritanniens, ein Austritt der Schotten aus dem Königreich ist nun sehr wahrscheinlich. Die EU verliert mit dem Brexit das Land, in dem liberales Gedankengut länger und tiefer verwurzelt sind als irgendwo sonst in Europa - ein Traditionsland der Demokratie.