Peter Müller

Neues Brexit-Abkommen Später Sieg der Vernunft

Der Austrittsvertrag mit den Briten zeigt, wie beweglich die EU sein kann, wenn sie zusammenhält. Das sollten sich die Europäer bei ihren vielen offenen Problemen zum Vorbild nehmen.
Handschlag zwischen EU-Chefunterhändler Barnier und dem britischen Brexit-Minister Stephen Barclay

Handschlag zwischen EU-Chefunterhändler Barnier und dem britischen Brexit-Minister Stephen Barclay

Foto: Francisco Seco/AP Pool/dpa

Soll noch mal einer sagen, Europa kann nicht schnell! Vor gerade mal einer Woche signalisierte Boris Johnson nach einem Treffen mit Irlands Premier Leo Varadkar Kompromissbereitschaft. Jetzt steht der britische Regierungschef mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker in Brüssel, und beide verkünden: Wir haben einen Deal. Michel Barnier, der Brexit-Chefunterhändler, sein Team und ihre britischen Kollegen haben im Akkord gearbeitet.

Sicher, wir alle, die EU und Großbritannien, waren schon mal an diesem Punkt, mehrfach sogar. Auch Johnsons Vorgängerin, die glücklose Theresa May, hatte in Brüssel bereits eingeschlagen, nur um wenig später kleinlaut um Änderungen am Austrittsvertrag zu bitten. Und was Johnson Zusicherung, er habe dieses Mal eine Mehrheit in London hinter sich, wirklich wert ist, wird man schon bald sehen, wenn sich das britische Unterhaus zum ersten Mal seit Jahrzehnten an einem Samstag trifft.

Doch immerhin: Es gibt einen Deal - und das ist erst mal eine gute Nachricht. Die EU saß bei den Verhandlungen von Anfang an am längeren Hebel, nicht zuletzt deswegen, weil sie die ökonomischen Folgen eines Brexit ohne Abkommen nicht ganz so hart treffen würde wie die Briten. Dem jetzt erzielten Kompromiss sieht man dieses Kräfteverhältnis jedoch nicht an. Beide Seiten haben nachgegeben, gerade auch die EU.

Großes Zugeständnis der EU, aber auch Johnson gibt nach

Das betrifft vor allem den Backstop, die sogenannte Notfalllösung, die eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindern sollte. Der Backstop ist nun keine All-Wetter-Versicherung mehr. Stattdessen kann die jetzt gefundene Lösung, Nordirland weitgehend im EU-Binnenmarkt und zumindest de facto teilweise auch in der Zollunion zu belassen, nach einigen Jahren mit bestimmten demokratischen Mehrheiten in Nordirland geändert werden. Das ist ein großes Zugeständnis der EU und vor allem Irlands.

Johnson wiederum gibt nach, wenn es um die künftigen Beziehungen geht. Er erkennt an, dass er sich nicht einfach von den EU- Verbraucherschutz-, Umwelt - oder Beihilferegeln befreien kann, wenn er gleichzeitig mit der EU weiter Geschäfte machen will. Vor den Küsten des Kontinents wird also - Stand heute - kein britischer Wirtschaftstiger brüllen. Für viele in der EU ist das eine Erleichterung.

Sicher, man hätte den Deal wohl schon viel früher haben können, wenn Briten und die EU-Unterhändler ähnlich zielführend wie in den vergangenen Wochen verhandelt hätten. Entscheidende Teile des nun gefundenen Kompromisses erinnern an den Nordirland-Backstop, den Theresa May - und Boris Johnson - noch im Februar 2018 als inakzeptabel zurückwiesen hatten.

Ob das Unterhaus in London am Samstag zustimmt, ist offen

Trotzdem bleibt das Abkommen ein später Sieg der Vernunft. Die "Quadratur des Kreises", von der Kanzlerin Angela Merkel immer wieder sprach, ist gelungen. Am Ende bewegten sich alle, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven:

  • Boris Johnson will die aller Voraussicht nach im Herbst anstehenden Unterhauswahlen gewinnen und die Brexit-Partei zusammenschrumpfen. Das gelingt ihm am besten, wenn er das einzige Versprechen einlöst, das seine Anhänger interessiert - und für den Brexit sorgt, einen geordneten noch dazu.
  • Auch Merkel wollte einen Deal. Immerhin: die Wirtschaft flaut in Deutschland ohnehin schon merklich ab und die Delle, die ein harter Brexit ohne Abkommen zusätzlich gebracht hätte, wollte Merkel nicht riskieren.
  • Sogar Emmanuel Macron strebte das Abkommen an. Frankreichs Präsident hat beim Brexit vor allem ein Ziel - er will die Briten loswerden. Die EU müsse sich endlich um ihre eigenen Probleme kümmern, den Klimawandel, das langsame Wirtschaftswachstum, die fehlende Schlagkraft in der Außenpolitik.

Dazu gibt es schon beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag ausreichend Gelegenheit. Die Europäer streiten darüber, ob und wie stark sie die Türkei angehen sollen und ob Nordmazedonien der Gemeinschaft beitreten darf.

Bei den Brexit-Verhandlungen haben sich EU-Mitglieder in den vergangenen zweieinhalb Jahren nicht auseinanderreißen lassen. Dies ist eine der wenigen positiven Überraschungen des Abschieds der Briten.

Ob das Parlament in London dem Abkommen zustimmt, ist zur Stunde völlig offen. Die verbleibenden EU-Mitglieder aber sollten den Brexit in jedem Fall als Chance für einen Neustart nutzen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren