Chaotische Brexit-Verhandlungen Noch 178 Tage und null Plan

Tory-Politiker Boris Johnson
Foto: Aaron Chown/ dpaWer wissen will, in welchem Zustand sich die Brexit-Verhandlungen befinden, bekommt derzeit beim Parteitag der britischen Tories eindrucksvolles Anschauungsmaterial.
Da fordert der für den EU-Austritt verantwortliche Minister Dominic Raab, die EU müsse endlich "ernsthaft" verhandeln - "und zwar sofort". Außenminister Jeremy Hunt scheint der EU dagegen vorzuwerfen, zu ernsthaft zu verhandeln. Sollte sie auf ihrer harten Linie beharren, warnte Hunt in Birmingham, könnte das bei den Briten den "Geist von Dünkirchen" wecken.
1940 schafften es die Briten zwar, Hunderttausende ihrer Soldaten vor den anrückenden Deutschen über den Ärmelkanal zu retten. Das geschlagene Expeditionskorps aber musste dafür in Frankreich alles stehen und liegen lassen. Als Sinnbild für einen gelungenen EU-Austritt taugt Dünkirchen damit kaum. Doch Hunt war noch nicht fertig. Sodann verglich er die EU mit der Sowjetunion, die ihre Mitglieder zum Bleiben zwinge. "Der Wunsch, da herauszukommen, wird nicht schwinden, sondern wachsen", sagte Hunt.
Die Reaktion aus Brüssel kam mit Verzögerung, dafür aber umso heftiger. Ein Sprecher der EU-Kommission empfahl Hunt, "hin und wieder ein Geschichtsbuch aufzuschlagen". Dann legte Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, nach: "Herr Hunt, ich glaube, Sie sollten sich entschuldigen."
Dear @Jeremy_Hunt
— Vytenis Andriukaitis (@V_Andriukaitis) October 1, 2018
I was born in Soviet gulag and been imprisoned by KGB a few times in my life.
Happy to brief you on the main differences between #EU and Soviet Union. And also why we escaped the #USSR
Anytime. Whatever helps. https://t.co/c2h7gbnj59
Die deutlichsten Worte fand EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis. "Ich bin in einem sowjetischen Arbeitslager zur Welt gekommen", twitterte der Litauer. Auch sei er mehrfach Gefangener des sowjetischen Geheimdienstes KGB gewesen. Er würde Hunt gern über die Unterschiede zur EU aufklären, so Andruikaitis: "Jederzeit. Alles, was hilft." Am Ende fühlte sich die britische Premierministerin Theresa May zu einer Klarstellung genötigt. Die EU und die Sowjetunion seien "nicht die gleichen Organisationen", ließ sie die BBC wissen.
Debatte gewinnt an Hysterie
Die Episode ist ein besonders bizarres Beispiel dafür, wie hysterisch die Brexit-Debatte inzwischen verläuft - und welche atemberaubenden Fehler der britischen Diplomatie unterlaufen. So hat Hunt mit seinem Sowjet-Fauxpas ausgerechnet jene östlichen EU-Mitglieder verärgert, die bisher Londons engste Verbündete in den Brexit-Verhandlungen waren. Laut internen EU-Papieren versuchen die Briten noch immer, an der Kommission vorbei mit einzelnen Mitgliedstaaten zu verhandeln. Dabei kann es sich London insbesondere nach dem desaströsen Gipfel von Salzburg kaum noch leisten, weiteres Wohlwollen in der EU zu riskieren.
Denn die Zeit drängt: 178 Tage bleiben bis zum Brexit-Termin am 29. März 2019, und die größten Probleme sind nach wie vor ungelöst. Zwar betonen alle Beteiligten immer wieder, dass niemand Interesse an einem Chaos-Brexit ohne Austrittsabkommen habe. Doch eines wird immer deutlicher: Guter Wille allein reicht nicht.
So ist die Irland-Frage, das nach wie vor größte Problem, weiter ungelöst. Mit dem EU-Austritt Großbritanniens müsste zwischen Irland und Nordirland eigentlich eine harte Grenze entstehen. Beobachter befürchten in diesem Fall neue Unruhen in dem ehemaligen Bürgerkriegsland.
Vorwurf aus Belfast: EU will Nordirland annektieren
Eine Notbremse - der sogenannte Backstop - soll sicherstellen, dass Nordirland praktisch Mitglied in der Zollunion und dem Binnenmarkt der EU bleibt, sollte es bis zum Brexit-Termin keine Einigung geben. Doch Mays Regierungspartner, die nordirische DUP, ist nicht nur dagegen, sondern verschärft ihren Ton. Am Dienstag warf DUP-Chefin Arlene Foster EU-Verhandlungsführer Michel Barnier vor, Nordirland mit Hilfe der Notbremse "annektieren" zu wollen.
Selbst bei Themen, die bisher nicht als allzu strittig galten, tauchen größere Schwierigkeiten auf. So strebt London mit der EU einen umfassenden Sicherheitspakt an. Doch britische Regierungskreise sind hochgradig besorgt, nach dem Brexit den Zugang zu Europol, dem Europäischen Haftbefehl oder EU-Datenbanken zu verlieren. Insbesondere das Schengener Informationssystem (SIS) sei ein "unglaublich nützliches Werkzeug", sagt ein britischer Diplomat. Allein in diesem Jahr hätten britische Behörden damit 10.000 verdächtige Personen identifiziert.
Doch Drittstaaten ist der Zugang zu SIS untersagt - und ob die Briten eine Ausnahme bekommen, ist keineswegs sicher. Ein Problem aus Brüsseler Sicht sind die eher lockeren Datenschutz-Gesetze Großbritanniens. Im April war in einem internen Papier der EU-Kommission von "ernsten Mängeln" im britischen Umgang mit heiklen Kriminalitätsdaten die Rede. Der britische Diplomat wirft der EU dagegen indirekt vor, Großbritannien für den EU-Austritt bestrafen zu wollen. London sei bereit, Geld zu zahlen, Daten zu liefern und alle EU-Regeln zu akzeptieren. Aber die Kommission argumentiere legalistisch und sage nicht, was sie eigentlich wolle.
Durchhalteparolen vom Brexit-Minister
Lösungen wurden auch auf dem Tory-Parteitag nicht erkennbar, stattdessen gab es Durchhalteparolen. "Wir werden cool bleiben und weiter verhandeln", sagte Brexit-Minister Raab. "Wir werden die Nerven behalten." Von der EU erwarte er "geistige Offenheit". Und natürlich sei er "zuversichtlich, dass wir einen guten Deal bekommen".
Woher er diese Zuversicht nimmt und wie ein solcher Deal aussehen könnte, verriet er nicht. Das Gleiche gilt für Boris Johnson, Mays schärfsten innerparteilichen Gegner. Immerhin sagte er auf dem Parteitag, was er nicht will: Mays Vision vom Brexit. Deren Plan sei "politisch demütigend", "gefährlich und instabil", und lasse das Land unter der Herrschaft der EU. "Dies ist nicht Demokratie, dies ist nicht das, wofür wir gestimmt haben", sagte Johnson unter dem Jubel seiner Parteifreunde.
Ein zweites Referendum zum Brexit wäre "katastrophal" für das Vertrauen in die britische Politik, sagte Johnson, dem selbst diverse Lügen und Halbwahrheiten in der Brexit-Kampagne nachgewiesen wurden. Am Mittwoch steht Mays Parteitagsrede an. Es gilt als wahrscheinlich, dass es ihre letzte als Tory-Chefin sein wird.
Elmar Brok (CDU), Mitglied der Brexit-Steuerungsgruppe im EU-Parlament, sieht indes die Chancen auf ein Austrittsabkommen schwinden. Sowohl den Tories als auch der oppositionellen Labour-Partei gehe es in erster Linie darum, "wer der nächste Premierminister wird", meint Brok. "Es ist durchaus möglich, dass die Briten sich so sehr in ihre Kampfeswut hineinsteigern, dass am Ende alles in die Luft fliegt."
Im Video - offener Streit auf dem Tory-Parteitag: