Brexit-Debatte in Großbritannien Die Mär vom Schweizer Modell

Mädchen vor einem Plakat der Brexit-Kampagne in Altrincham
Foto: © Phil Noble / Reuters/ REUTERSFür Nigel Farage ist es ganz einfach. "Die Menschen in Norwegen und in der Schweiz sind glücklich", sagt der Chef der britischen Unabhängigkeitspartei Ukip: "Ihre Länder haben einen Deal mit der EU und dieser sichert ihnen die Handelsbeziehungen, die sie wirklich wollen."
Es ist ein Standardspruch von Farage. Seine Partei fordert wie Teile der konservativen Tories, Großbritannien solle die Europäische Union verlassen. Sie wollen den Brexit. Am 23. Juni stimmen die Briten darüber ab, und aktuelle Umfragen zeigen: Es wird wohl sehr knapp.
Die Regierung von David Cameron warnt vor massiven wirtschaftlichen Einbußen, sollten die Bürger für den Brexit stimmen. Reine Panikmache sei das, schimpfen seine Widersacher. Die Schweiz und Norwegen seien schließlich auch nicht in der EU - und beiden Ländern gehe es hervorragend.
Das Argument klingt zunächst interessant. Könnten die Briten ihren Sonderstatus, über den sie ohnehin in vielen Bereichen der EU bereits verfügen, noch perfektionieren und zu einer "Schweiz mit Atomwaffen" mutieren? Also wirtschaftlich und militärisch dabei sein, aber der Bürokratie und den Vorschriften aus Brüssel aus dem Weg gehen?
Doch so charmant das für viele Briten klingen mag: Die Gedankenspiele sind eine Illusion. Die Brexit-Befürworter machen ihren Anhängern etwas vor. Weder das norwegische noch das Schweizer Modell ist auch nur annähernd realistisch für Großbritannien.
Relativ einfach lässt sich das bei Norwegen zeigen. Die Skandinavier haben es zweimal abgelehnt, Mitglied der EU zu werden. Norwegen gehört seit 1994 dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) an. Dieser trat 1994 in Kraft und öffnete seinen Mitgliedern den Binnenmarkt mit seinen 500 Millionen Verbrauchern.
Die Brexit-Befürworter unterschlagen beim Verweis auf Norwegen jedoch den Preis, den Oslo für die Vorteile des Binnenmarkts entrichtet: EWR-Mitglieder müssen in den europäischen Kohäsionsfonds einzahlen, mit dem soziale Unterschiede in der EU ausgeglichen werden. Norwegen nimmt zudem an einer Reihe weiterer EU-Programme teil und überweist dafür die gleichen Summen wie die Mitgliedstaaten.
Insgesamt kommen so mehr als 850 Millionen Euro pro Jahr zusammen. Berücksichtigt man noch, wie viel Geld Großbritannien von der EU erhält, zahlt Norwegen pro Bürger nahezu genauso viel wie das Vereinigte Königreich.
"Die ökonomische Irrationalität ist erschreckend"
Dazu kommt: Norwegen muss zahlreiche EU-Vorschriften wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren, ohne Mitsprache in den europäischen Institutionen zu haben. Sollte Großbritannien also aus der EU austreten und dem EWR beitreten, müsste das Land weiter zahlen, die ungeliebten Vorschriften aus Brüssel weiter akzeptieren - und hätte keine Chance mehr, über die Bedingungen für den Binnenmarkt zu verhandeln.
"Die Briten würden ihren Einfluss in der EU verlieren, müssten aber alle Regeln befolgen", sagt Dennis Snower, Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Der US-Amerikaner hat knapp 20 Jahre in London gelebt und geforscht, die "ökonomische Irrationalität der Brexit-Befürworter" nennt er "erschreckend".
Auch den Verweis auf das Schweizer Modell hält Snower für eine "Fantasie, die völlig unrealistisch ist". Gefühle statt Fakten, so laute die Strategie der EU-Gegner.
Die Schweiz ist kein Mitglied im EWR, sondern handelte in den vergangenen rund 25 Jahren mehr als 120 bilaterale Abkommen mit der EU aus. So können die Schweizer weitgehend vom EU-Freihandel profitieren - allerdings zum Beispiel nicht bei Finanzdienstleistungen. Das wäre für Großbritannien ein großes Problem, schließlich hat der Finanzsektor eine tragende Bedeutung für die britische Volkswirtschaft. Außerdem übernimmt auch die Schweiz fortlaufend europäische Regeln, um die Kompatibilität zur EU zu gewährleisten, hat aber kein Mitspracherecht.
Die Briten können nicht alles haben
Der Status der Schweiz würde den Briten wohl kaum reichen, sagt Stephan Breitenmoser, Europarechtler an der Universität Basel. Dazu komme, dass es sehr schwierig sei, mit der EU individuelle Vereinbarungen zu treffen. "Je spezifischer der einzelne Bereich, umso komplizierter wird es", sagt Breitenmoser. Dass Großbritannien also wirklich innerhalb von zwei Jahren - bis ein Austritt Realität werden könnte - jenen Status erreichen würde, den die Schweiz hat, ist schwer vorstellbar.
Zumal die EU wenig Interesse daran haben dürfte, den Briten ähnliche Zugeständnisse zu machen wie der kleinen Schweiz. Ein Beispiel: Die Verträge der Schweiz mit der EU im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind statisch. Das heißt: Bis zum 1. Juli 1995 haben die Schweizer alle EU-Regeln in diesem Bereich übernommen. Alles, was Brüssel danach beschlossen hat, musste die Schweiz nicht automatisch übernehmen, sondern konnte darüber verhandeln. Derzeit ist die Zukunft dieses Sonderstatus allerdings ungewiss, weil die Schweiz jährliche Höchstzahlen für Zuwanderer festlegen will.
"Die statischen Verträge sind für die EU wegen der raschen Entwicklung des Rechts kaum noch sinnvoll", sagt Europarechtler Breitenmoser. Er hält es für undenkbar, dass Brüssel derartige Vereinbarungen mit Großbritannien schließen würde.
Klar ist, dass die Briten nicht alles haben können. Sich von der EU politisch abzuwenden und zugleich alle wirtschaftlichen Vorteile des Binnenmarkts zu behalten, wird nicht funktionieren.
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