Politologe zum Brexit "Extrem peinlich für den Premier"

Demonstranten in London vor dem Parlament
Foto: Isabel Infantes/ AFP
Demonstranten in London vor dem Parlament
Foto: Isabel Infantes/ AFPTim Bale, Jahrgang 1965, ist Politikprofessor an der Queen Mary Universität in London. Er ist auf die Themen britische Innenpolitik, Rechtspopulismus und Europa spezialisiert.
SPIEGEL: Boris Johnsons Antrag auf Neuwahlen für den 15.Oktober hat es vorerst nicht durchs Unterhaus geschafft. Wird es doch noch Neuwahlen in Großbritannien geben?
Tim Bale: Es gibt keinen Zweifel, dass wir Neuwahlen haben werden. Boris Johnson wünscht sich diese Wahlen für den 15. Oktober. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Oppositionsparteien für Neuwahlen nach dem 31. entschieden haben, um Johnson bloßzustellen. So wird er sein Versprechen nicht halten können, bis Ende Oktober aus der EU auszutreten.
SPIEGEL: Wie stehen die Chancen für die Tories, die Wahl zu gewinnen?
Bale: Nach dem 31.Oktober wird es für Johnson viel schwieriger werden, eine Wahl zu gewinnen. Zu dieser Zeit wird er die EU schon um Aufschub gebeten haben müssen. Dann können sich Nigel Farage und die Brexit-Partei über Stimmen freuen. Wir können aber auch nicht sicher sein, ob die Tories vor diesem Datum eine Chance hätten. Die Liberaldemokraten können sicher einige der gemäßigteren konservativen Wähler abfischen. Trotzdem: Die britische Bevölkerung wünscht sich einen einfachen Ausweg aus der Situation. Das könnte für die Tories sprechen. Nach dem Motto: "Bringt es endlich hinter euch." Auch wenn ein ungeordneter Austritt die Dinge bestimmt nicht einfacher macht. Für Johnson ist es eine riskante Wette. Aber gibt es für ihn einen anderen Ausweg aus der jetzigen Situation als Neuwahlen? Es sieht nicht danach aus.
SPIEGEL: Steht die linksliberale Labourpartei denn besser da?
Bale: Labour steckt in großen Problemen. Die Partei kommt derzeit nur noch auf rund 20 Prozent der Stimmen. Trotzdem: Wir dürfen nicht vergessen, dass Labour einen ziemlich guten Wahlkampf hinlegen kann, das haben sie schon 2017 bewiesen. Ihre Social-Media-Strategie ist deutlich gekonnter. Diese Stärken darf man nicht unterschätzen. Ich denke schon, dass sie das Zeug haben, die Partei mit den meisten Stimmen zu werden.
SPIEGEL: Jeremy Corbyn ist bei den Briten aber nicht unbedingt beliebt...
Bale: Das ist eine Untertreibung. Corbyn ist sicher das größte Problem für Labour. Die Antisemitismus-Vorwürfe und sein Image als radikal Linker schaden der Partei. Für die meisten ist er eben ein weltfremder, bärtiger Sandalenträger, der sich weigert, sich bei Zeremonien zu verbeugen. Und so oberflächlich das klingt - auch danach entscheiden Wähler. Labour hätte sicher eine bessere Chance ohne Corbyn und es gibt Leute in der Partei, die den Job machen könnten. Doch Corbyn wird bleiben.
SPIEGEL: Welche Strategien werden die Parteien für den möglichen kommenden Wahlkampf fahren?
Bale: Es wird sich klar um den Brexit drehen und zwar für alle Beteiligten. Die Wahlkampfaussagen werden ziemlich einfach ausfallen. Für Johnson wird es heißen: Wähle mich und ich hole uns endlich raus aus der EU. Außerdem werden die Tories sich weiter gegen die Angriffe von Labour wehren müssen. Die haben 2017 sehr erfolgreich verbreitet, dass die Regierung zu wenig Geld für Schulen, Gesundheit und Polizei ausgibt. Labour wird sich wohl darauf konzentrieren, den Brexit ohne Deal verhindert zu haben, oder sogar die Möglichkeit ein zweites Referendum auf den Weg zu bringen. Ob sie sich nachher aber für einen Verbleib Großbritanniens in der EU einsetzen würden, ist schwer zu sagen. Die Liberaldemokraten dürfen wir nicht vergessen. Sie werden sich voll für ein zweites Referendum und den Verbleib in der EU einsetzen. Sie wissen, dass das ihr stärkstes Argument ist.
SPIEGEL: Ist ein zweites Referendum wirklich noch eine Möglichkeit?
Bale: Ja, aber nur wenn die Oppositionsparteien - Labour und die Liberaldemokraten - als Wahlsieger hervorgehen und eine Koalition schmieden. Dann wäre ein zweites Referendum sogar ziemlich wahrscheinlich.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen die 21 Tory-Rebellen, die Johnson aus der Fraktion warf, als sie seinen Kurs nicht weiter unterstürzen wollten?
Bale: Das sind sehr kluge Menschen, die sich gut mit den Medien auskennen. Ihr Vorgehen war fein aufeinander abgestimmt. Damit haben sie dem Premier eine ziemliche Blamage beschert und das Bild gezeichnet, dass die konservative Partei sehr gespalten ist. Kein Vorsitzender will, dass Wähler das von seiner Partei denken - vor allem nicht vor einer Wahl. Johnson selbst wirkt skrupellos, beinahe diktatorisch durch die Rauswürfe. Auch bei der Stimmenverteilung im Parlament wird das jetzt brisant: Die Parteimitglieder, die er rausgeworfen hat, bleiben parteilose konservative Mitglieder des Parlaments und machen Johnson Probleme. Vielleicht muss Johnson die bittere Pille schlucken und ihnen entgegenkommen, um sich die Mehrheit zu sichern.
SPIEGEL: Der Rücktritt seines Bruders Jo Johnson war sicher auch bitter...
Bale: Das ist wirklich extrem peinlich für den Premier. Er kann nicht mal seinen eigenen Bruder in der Partei behalten. Es wird für Boris Johnson sehr schwierig, diese Nachricht hinter sich zu lassen.
SPIEGEL: Die Tories haben dem Gesetz gegen den No Deal zugestimmt, nach dem es drei Monate Aufschub für den Brexit geben soll. Kann man darauf vertrauen, dass sich Johnson daran hält?
Bale: Kann man auf irgendetwas vertrauen, was Johnson sagt? Es wäre zwar schon sehr überraschend, wenn ein Premierminister eine gesetzliche Zusage zurückziehen würde. Trotzdem: Es ist eine Sache, Johnson dazu zu bringen, ein Gesetz zu unterschreiben und eine andere, ihn dazu zu bringen, den Brief an die EU mit der Bitte um Verlängerung auch abzuschicken.
SPIEGEL: Und die EU würde der Verlängerung einfach so zustimmen?
Bale: Die meisten würden wohl darauf tippen, dass die EU einen No-Deal-Austritt verhindern will. Vielleicht beeinflusst die bevorstehende Neuwahl auch das Handeln der EU. Wenn man in Brüssel denkt, dass nach diesen drei Extra-Monaten durch Neuwahlen endlich Klarheit herrscht - ob in Form eines geregelten Brexits oder eines zweiten Referendums - könnte man geneigt sein, zuzustimmen. Aber es stimmt schon, wir gehen alle davon aus, dass die EU einfach Ja sagt.
SPIEGEL: Wenn Sie jetzt die Entscheidungsmacht in Großbritannien hätten...
Bale: ...würde ich ein zweites Referendum ausrufen. Ich sehe nicht, wie wir ohne auskommen. Und dieses Mal müsste die Regierung dem Auftrag des Volkes auch wirklich nachkommen.
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Die Tories haben seit Dienstag im Unterhaus 22 Abgeordnete weniger. Unter den Parlamentariern, denen Johnson die Parteimitgliedschaft entzog, sind ehemalige Regierungsmitglieder und ein direkter Nachfahre Winston Churchills.
Philip Hammond war über neun Jahre Regierungsmitglied, unter anderem als Verteidigungs- und Außenminister. Unter Theresa May diente er zuletzt als Finanzminister. Aus Ablehnung gegen Boris Johnsons rigorosen Brexit-Kurs trat er zurück, als dieser im Juli Premierminister wurde. Hammond hatte sich beim Referendum 2016 für den Verbleib Großbritanniens in der EU ausgesprochen und später gegen einen harten Brexit plädiert. Konservative Medien warfen ihm mehrmals Verrat vor.
Genau wie Hammond diente David Gauke seit 2010 als Minister unter David Cameron und Theresa May, zuletzt als Justizminister und Lordkanzler. Auch er legte sein Amt nieder, als Johnson Premier wurde.
Er gilt als Europafreund: Dominic Grieve . Der Anwalt stufte europäisches Recht mitunter höher ein als britisches, etwa die Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Von 2010 bis 2014 war Grieve Generalstaatsanwalt.
Kenneth "Ken" Clarke wird von der britischen Presse als "Big Beast" beschrieben. Der 79-Jährige diente schon in der Regierung Margaret Thatchers. Bei der Frage, wer im Falle eines Misstrauensvotums gegen Johnson eine Übergangsregierung führen könnte, gilt Clarke vielen als Favorit. Er könne - im Gegensatz zu Labour-Chef Jeremy Corbyn - eine parteiübergreifende Mehrheit gewinnen, heißt es.
Rory Stewart - eigentlich Roderick James Nugent Stewart - hat einen der ungewöhnlichsten Lebensläufe im britischen Unterhaus. Er wuchs als Sohn eines britischen Diplomaten in Malaysia auf und arbeitete zeitweise als Nachhilfelehrer für die englischen Prinzen William und Harry. Für das Außenministerium war er in Indonesien, Osttimor und Montenegro tätig und verhandelte im Irak zwischen verfeindeten Stämmen. Unter Theresa May war er zuletzt Minister für Entwicklungshilfe und Gleichstellung.
Nicht nur "Sir", sondern auch "Ritter": Oliver Letwin war unter David Cameron Staatsminister.
Sein Rauswurf aus der Tory-Partei erschütterte viele Konservative am meisten; schließlich ist Sir Nicholas Soames der Enkel des legendären Winston Churchill, Boris Johnsons großem Idol. 1993 zog er erstmals als Abgeordneter ins britische Parlament ein.
Justine Greening hatte schon viele Ministerposten inne: Unter Cameron war sie ab 2011 Verkehrsministerin, anschließend Ministerin für internationale Entwicklungszusammenarbeit und Bildungsministerin.
Seit langem bei den Torys - aber mit Pausen. Margot James trat als 17-Jährige den Torys bei, verließ die Partei aber wieder, als Margaret Thatcher den Posten als Premierministerin abgab. Im Jahr 2003 trat sie wieder ein. Ab 2008 war sie für zwei Jahre stellvertretende Parteivorsitzende.
Im Rennen um die Nachfolge Theresa Mays trat Sam Gyimah an, zog seine Kandidatur aber zurück, bevor die offiziellen Abstimmungen begannen. Er war unter allen Bewerbern der einzige, der die Bevölkerung in einem zweiten Referendum erneut über den Austritt aus der EU befragen wollte.
Stephen Hammond traf sich noch vor der verhängnisvollen Notfalldebatte am Dienstagmittag mit anderen Tory-Rebellen und Premier Johnson - das Treffen blieb aber ohne Einigung. Einer der Teilnehmer bezeichnete es anschließend schlicht als "Mist".
Die Strafanwältin Antoinette Sandbach ließ sich nicht von Johnsons Drohgebärden einschüchtern. Schon vor der entscheidenden Debatte, die den Weg für ein No-No-Deal-Gesetz ebnen sollte, gab sie an, gegen Johnsons Kurs stimmen zu wollen - und notfalls einen Parteiausschluss in Kauf zu nehmen.
Die Bildungspolitikerin Anne Milton trat schon vor Johnsons Amtsantritt von ihrem Posten als Staatssekretärin für Bildungsfragen zurück. Sie sagte, sie könne keiner Regierung dienen, mit der es die Möglichkeit eines Austritts aus der EU ohne Abkommen zwischen London und Brüssel gäbe.
Er war der Erste, der die Fraktion am Dienstag verließ - und tat das im Gegensatz zu seinen 21 ausgeschlossenen ehemaligen Tory-Kollegen freiwillig. Phillip Lee lief durch den Parlamentssaal und setzte sich zu den Liberaldemokraten - und das während Premier Johnson sprach.
Im Rennen um die Nachfolge Theresa Mays trat Sam Gyimah an, zog seine Kandidatur aber zurück, bevor die offiziellen Abstimmungen begannen. Er war unter allen Bewerbern der einzige, der die Bevölkerung in einem zweiten Referendum erneut über den Austritt aus der EU befragen wollte.
Foto: David Mirzoeff/ PA Wire/ DPAMelden Sie sich an und diskutieren Sie mit
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