Brexit
Das Versprechen von den blühenden Grafschaften
Redcar im Nordosten Großbritanniens hat sehr von der EU profitiert - trotzdem stimmten die Einwohner für den Austritt. Nun hoffen sie, dass die Pläne von Boris Johnson Wirklichkeit werden - und könnten alles verlieren.
Brachliegendes Stahlwerksgelände: Hoffen auf die großen Pläne von Boris Johnson
Foto: Scott Heppell/ AFP
Die neue Flagge für das Gemeindezentrum in Redcar liegt schon bereit: Das Blau ist ein bisschen heller als das der alten, in der Mitte prangt eine weiße Rose statt der zwölf goldenen Sterne. Yorkshire statt EU, Heimatidylle statt europäischer Gemeinschaft. "Because this is who we are", sagt Mary Lanigan, die Vorsitzende des Gemeinderates: Denn das macht uns aus.
Wenn die Yorkshire Flag am Samstag vor dem Gemeindehaus weht, sind die Menschen in Redcar keine EU-Europäer mehr, sondern nur noch Menschen von hier. Es ist eine Zäsur, und genau das, was sie gewollt haben. Lanigan, eine resolute Frau mit grauen Haaren, die jetzt Ende 60 ist, hat den Großteil ihres Lebens in Großbritannien gelebt, das ein Teil der EU war. Kurz vor dem Brexit ist sie nicht traurig, sondern extrem optimistisch. "Unsere Zukunft wird glänzend", sagt sie.
Stadträtin Mary Lanigan: "Plötzlich scheint die Regierung Geld für uns zu haben."
Foto: Redcar & Cleveland Borough Council
Redcar ist ein kleiner ruhiger Ort im Nordosten Großbritanniens, rund 36.000 Einwohner leben hier. Der Fluss Tees mündet hier im Meer, nach ihm ist die Gegend benannt: Teesside. Die Region ist so etwas wie das Ruhrgebiet Großbritanniens, ein Standort für die Stahl- und Chemieindustrie. Doch seit den Achtzigerjahren geht es bergab mit der Produktion. Außerhalb von Redcar liegt mittlerweile ein riesiges Areal brach - das Stahlwerk dort wurde 2015 stillgelegt.
Wer durch die Hauptstraßen Redcars schlendert, ahnt, dass es früher eine stolze Arbeiterstadt war. Und lange war es auch eine Hochburg der Labour-Partei. Doch beim Referendum über den Brexit stimmten 66 Prozent der Einwohner von Redcar für den EU-Austritt. Und bei den Parlamentswahlen im Dezember gewann ein Tory den Wahlkreis - zum ersten Mal.
Das Singapur am Tees
Ausgerechnet das stimmt die parteilose Stadträtin Lanigan so optimistisch. Jetzt, so hofft sie, kommt mehr Hilfe aus London. Ihre Rechnung ist simpel: Will Boris Johnson seine neuen Anhänger im Norden halten, muss er etwas für sie tun. "Wir haben den Tories unsere Stimme nur geliehen, sie müssen jetzt ihre Versprechen erfüllen", sagt die Stadträtin. "Plötzlich scheint die Regierung Geld für uns zu haben."
Johnson macht große Versprechen: In Redcar solle ein "Freeport" entstehen, ein Freihafen. In der Sonderwirtschaftszone drumherum sollen sich Unternehmen niederlassen können, um Güter zollfrei zu im- und exportieren. Das ist ein Teil seiner Vision für die Zukunft Großbritanniens nach dem Brexit: freier Handel und Turbokapitalismus. Die Gegend um Redcar soll zum Singapur am Tees werden.
Lanigan hat dieses Versprechen überzeugt: "Mit dem Freihafen wird hier alles boomen." Blühende Landschaften - oder in diesem Fall: florierende alte Stahlwerksgelände.
Das leere Areal soll Teil der Sonderwirtschaftszone werden. In vier Jahren, so der Plan der regionalen Entwicklungsgesellschaft, werde das Gelände saniert und umgebaut. Lanigan hofft auf 20.000 neue Arbeitsplätze und einen jährlichen Umsatz von einer Milliarde Pfund.
So schön dieser Brexit-Traum klingt, so ungewiss ist seine Umsetzung. Das erste ganz konkrete Hindernis: das Gelände des Stahlwerks müsste zunächst einmal zwangsverkauft werden. Und wie aussichtsreich Johnsons Plan mit den Sonderwirtschaftszonen ist, wird auch davon abhängen, wie seine Verhandlungen mit der EU über die künftigen Beziehungen verlaufen. Die EU sieht die britischen Pläne bislang skeptisch.
Auch in Redcar gibt es Menschen, die nicht viel auf die Versprechungen von Johnson geben. Mike Milen leitet eine Wohltätigkeitsorganisation in Redcar, die Freiwillige organisiert und sie an andere Organisationen vermittelt. Er fürchtet, dass die Pläne mit dem Freihafen noch mehr Unsicherheit bedeuten. "Das werden vor allem unsichere Jobs für Geringqualifizierte sein", sagt er. Schon jetzt seien hier sogenannte Null-Stunden-Verträge verbreitet, bei denen Arbeiter auf Abruf beschäftigt sind. Die Unzufriedenheit über die prekären Arbeitsverhältnisse war allerdings einer der Gründe, warum so viele Menschen in den ehemaligen Industriestädten wie Redcar für den Brexit gestimmt haben.
Dabei hat Redcar eigentlich stark von der EU und vor allem dem Geld aus Brüssel profitiert. Der Europäische Fonds für Regionale Entwicklung finanzierte hier gleich mehrere Projekte mit: das Gemeindezentrum mit einem Schwimmbad und einem Fitnessstudio, eine neue Uferpromenade, den "Beacon" - einen modernen Turm am Ufer, in dem die lokale Radiostation untergebracht ist.
Palace Hub am Wasser: Von der EU, für junge Menschen
Foto: Julia Smirnova
Auch das Palace Hub - ein Zentrum für digitale Start-ups, das junge Menschen in Redcar halten soll - ist mit Geld aus Brüssel entstanden. Im dritten Stock hat hier Jessica Bowman ihr Studio mit Blick aufs Meer. Sie fühle sich hier viel wohler als in London, wo sie mehrere Jahre für sehr wenig Geld gearbeitet habe, erzählt die Zeichnerin. Jetzt betreibt sie ihren eigenen Onlineshop und verkauft ihre selbst entworfenen Poster und Kinderaccessoires an Kunden aus aller Welt. Am liebsten würde sie einen richtigen Laden betreiben, doch das würde sich in Redcar, wo viele Geschäfte im Zentrum leerstehen, nicht lohnen. "Ich bin mir nicht sicher, dass alle Menschen hier wissen, was in der Stadt alles von der EU finanziert wurde", sagt sie. "Der Brexit macht mich richtig traurig."
Jessica Bowman in ihrem Büro: "Brexit macht mich traurig"
Foto: Julia Smirnova
Und er bremst sie und andere. In der Zeit seit dem Referendum habe sie immer wieder neue Unsicherheiten wahrgenommen. "Ich warte selbst ab mit meinen Plänen, zu investieren und das Unternehmen weiterzuentwickeln." Und mit der Ungewissheit wird es nach dem 31. Januar nicht vorbei sein.
Die abgeschlossenen Projekte, die von der EU finanziert wurden, bleiben der Stadt zwar erhalten. Und die Regierung in London verspricht der Region viel frisches Geld, um Lücken im Budget zu schließen, die nach dem Austritt aus der EU entstehen werden. Doch der Wohlstand in Redcar hängt davon ab, wie es der britischen Wirtschaft nach dem Brexit geht und auch davon, was die Regierung von Boris Johnson mit Brüssel vereinbart. Je nachdem, wie das Abkommen zwischen Großbritannien und der EU aussehen wird, könnte der Brexit die chemische Industrie in der Region hart treffen - noch bevor ein Freihafen hier entsteht. Und so könnten abgehängte Regionen noch mehr verlieren, obwohl sich die Menschen dort so viel erhofft haben.
Wenn Mike Milen über all diese Risiken nachdenkt, schüttelt er nur den Kopf: "Denjenigen, die am meisten durch den Brexit zu verlieren haben, wurde ein Märchen verkauft."