Markus Becker

Brexit-Verhandlungen Die EU muss hart bleiben

Die Brexit-Strategie der klaren Kante war bisher ein voller Erfolg: Die EU hat die britische Regierung genau dort, wo sie sie haben will. Gibt sie jetzt nach, verspielt sie womöglich die kleine Chance, Großbritannien in der EU zu halten.
Theresa May

Theresa May

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Jetzt sind es also schon 95 Prozent.

Kürzlich war das Abkommen über den Austritt Großbritanniens aus der EU zu 80 Prozent fertig. Dann waren es 85 Prozent, wenig später 90. Jetzt aber sei man bei 95 Prozent, sagte die britische Premierministerin Theresa May am Montag in ihrer Rede vor dem britischen Unterhaus.

Geht es also doch voran in den Brexit-Verhandlungen zwischen Brüssel und London? Mitnichten. "Eher so dahingesagt" sind Mays Prozentangaben nach Ansicht eines EU-Diplomaten. Inhaltlich hat die Premierministerin im Parlament nur altbekannte Positionen wiederholt. Die Verhandlungen liegen brach, es gibt keinen Termin für das nächste Treffen zwischen dem britischen Brexit-Minister Dominic Raab und EUs-Chefunterhändler Michel Barnier.

Das Problem: Egal, ob es nun 15, 10 oder 5 Prozent sind, die noch zum fertigen Abkommen fehlen - dieser Rest beinhaltet die Irland-Frage, und bevor sie nicht gelöst ist, gibt es keinen Deal. Die Gefahr eines chaotischen Brexits ohne Abkommen wächst unterdessen täglich.

Dennoch würde die EU einen Fehler begehen, wenn sie den Briten jetzt entgegenkommen  würde.

EU-Strategie ist voller Erfolg

Die Strategie der EU ist bisher ein voller Erfolg: Die Staats- und Regierungschefs haben klare Verhandlungsrichtlinien erlassen, die der Beauftragte Michel Barnier ebenso klar vertreten hat. Während das britische Regierungslager zutiefst gespalten ist, haben die anderen 27 EU-Staaten eine Einigkeit gezeigt, die ihnen nur wenige zugetraut hatten. Irgendwann, so unkten Beobachter und Politiker immer wieder, würden sich Risse in der Brüsseler Front zeigen. Zu unterschiedlich seien die Interessen der einzelnen Regierungen.

Doch stattdessen hat sich gezeigt, dass insbesondere der Zusammenhalt des EU-Binnenmarkts nationale Interessen in den Schatten stellt. Die Front der EU hält, obwohl die britische Regierung bis heute wenig unversucht lässt, sie zu sprengen.

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Fotos aus London: "Bollox to Brexit!"

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Warum also sollte die EU ihre Linie verlassen und auf die Briten zugehen? Ein verbreitetes Argument lautet: Man muss sich nach den Verhandlungen noch in die Augen schauen können. Die EU dürfe die Briten nicht zu sehr demütigen, um die künftigen Beziehungen nicht zu gefährden, heißt es.

Die Briten aber sind schon über vieles hinweggekommen, was seinerzeit als nationale Demütigung galt. Sie werden auch eine Demütigung in den Brexit-Verhandlungen ertragen. Ohnehin würde ein wenig Demut in London vielleicht nicht schaden, sieht man sich an, wie sich britische Politiker von Boris Johnson über Jeremy Hunt bis hin zu Theresa May in den vergangenen Monaten gegenüber der EU verhalten haben. Und dass die Brexiteers am Ende die EU beschuldigen werden, ihren Fantasie-Brexit verhindert zu haben, lässt sich sowieso nicht verhindern.

Ein anderes Argument dafür, dass die EU ihre Linie gegenüber London aufweichen sollte, ist praktischer Natur: Man steigere so die Chancen, ein Abkommen zu erreichen und einen für beide Seiten teuren Chaos-Brexit zu vermeiden.

Der Druck muss bestehen bleiben

Richtig daran ist, dass ein solcher Ausgang auch für die EU unangenehm wäre. Für Großbritannien aber wäre er eine Katastrophe. Jeder Schritt Brüssels, diesen Unterschied zu verkleinern, würde auch den Druck auf die Hardliner im britischen Parlament vermindern, einem Deal zuzustimmen. Den Druck aber braucht es, da May im Parlament nur mit hauchdünner Mehrheit regiert.

Zudem ist die Annahme, dass Zugeständnisse bei den radikalen Brexiteers etwas bewirken, durch nichts bewiesen. Vielmehr hat May in den vergangenen Monaten auf die harte Tour gelernt, dass die Hardliner in ihrer Partei nie zufrieden sind. Anfangs hat May die Brexiteers zu befrieden versucht, indem sie ihnen einen Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion der EU versprach. Ihre jüngste Volte ist, die Auffanglösung für Nordirland - die London der EU zwei Mal fest zugesagt hat - wieder infrage zu stellen.

Genützt haben May solche Zugeständnisse nichts. Die EU sollte jetzt nicht denselben Fehler begehen.

Denn dann würde sie nicht nur den Zusammenhalt des Binnenmarkts - ihren vielleicht wichtigsten Existenzgrund - gefährden und die Chancen auf einen Brexit-Deal schmälern. Sie würde womöglich auch die letzte kleine Chance verspielen, die es für einen Verbleib Großbritanniens in der EU noch gibt.

Denn der Blick in den Abgrund scheint nicht nur bei Abgeordneten, sondern auch im Volk Wirkung zu entfalten. Die Riesen-Demo für eine erneute Volksabstimmung, zu der am Wochenende rund 700.000 Menschen nach London kamen, war ein machtvolles Zeichen dafür. Weitere Demonstrationen dieser Art und Größe könnten den Gegnern eines zweiten Referendums ihr liebstes Argument rauben: dass eine erneute Abstimmung ein Versuch von Politikern wäre, den Willen des Volkes zu untergraben.

Videoanalyse zum EU-Gipfel: "Ein kleiner Fortschritt - immerhin"

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