Eine Abgeordnete protestiert vor dem Parlament, ein Europa-Fan schreibt gegen die Regierung an, eine Akademikerin geht auf die Straße. Auf unterschiedliche Weise kämpften seit dem Referendum 2016 viele Menschen in Großbritannien gegen den Brexit. Ohne Erfolg. Wie geht es ihnen heute? März 2019, Wera Hobhouse vor dem britischen Unterhaus: Die Brexit-Gegnerin und gebürtige Deutsche wurde 2017 in das Parlament gewählt. Der EU-Austritt Großbritanniens ist ihre größte politische Niederlage.
Wera Hobhouse, Unterhaus-Abgeordnete, Liberaldemokraten
»Ich bin seit einem Jahr an die politische Realität gewöhnt und so sind viele, die mit mir gekämpft haben. Wir sind geschlagen, wir fühlen uns deprimiert. Aber wir sehen natürlich der politischen Realität in die Augen.«
Politische Realität ist inzwischen auch eine klare Parlamentsmehrheit der konservativen Tories von Boris Johnson – und ein anderes Klima auf den Fluren des House of Commons.
Wera Hobhouse, Unterhaus-Abgeordnete, Liberaldemokraten
»Die konservative Partei ist ja richtig ausgeräumt worden von den moderaten Konservativen – und eine viel extremere Partei ist jetzt an der Macht. Sehr viele neue Parlamentarier sitzen im Parlament, die ganze Stimmung ist gedimmt von der Opposition und eine sehr maskuline, triumphale Stimmung innerhalb der konservativen Partei.«
2019 dagegen war das Parlament tief gespalten in Brexit-Gegner und Brexit-Befürworter. Unterhaussprecher John Bercow musste oft für Ordnung sorgen. Premierministerin Theresa May kämpfte um die Parlamentsmehrheit und für ein Austrittsabkommen zwischen Großbritannien und der EU. Martin Cobb wurde damals zum Vielschreiber. Monatelang schickte er 2018 und 2019 jeden Tag eine Postkarte mit selbst gemachtem Stempel an seine Unterhausabgeordnete. Sein Ziel: ein zweites Referendum über den Brexit. Doch dazu kam es nicht.
Martin Cobb, Verkaufsleiter
»Ich bin völlig erschöpft vom Brexit. Ich will nicht sagen, dass es eine Erleichterung ist, es ist nicht wirklich eine Erleichterung. Aber ein Teil von mir ist erleichtert, dass sich die Dinge ändern. Denn es war schon eine lange Zeit. Jetzt, da wir tatsächlich vollständig und komplett die EU verlassen haben, fühlt es sich sehr seltsam und wie ein einsamer Ort an, um ehrlich zu sein.«
Auch Bettina Friedrich muss sich neu sortieren. Die deutsche Forscherin arbeitet am University College London, das bislang auch von seinen engen Kontakten zum Kontinent und nicht zuletzt von europäischen Forschungsgeldern lebte. Um diese nicht zu verlieren, demonstrierte Friedrich lange gegen den Brexit.
Bettina Friedrich, University College London
»Es gab ja riesengroße Proteste, gerade hier in London, wo unheimlich viele Leute aus dem ganzen Land kamen und gegen den Brexit demonstriert haben. Und wir hatten das Gefühl, wir waren sehr nah dran, ein zweites Referendum zu bekommen.«
In vielen Städten hatten sich Brexit-Gegner zusammengetan, auch in Martin Cobbs Heimatstadt Devizes.
Martin Cobb, Verkaufsleiter
»Der Brexit war präsent in den Köpfen der Menschen. Er war in den Wohnzimmern der Leute, in den Pubs. Es war eine fieberhafte Zeit. Ein Land, das buchstäblich in zweigeteilt war.«
Neben dem alles dominierenden Thema fand Wera Hobhouse damals nie genug Zeit für andere Anliegen ihrer Wähler – den Stadttourismus in Bath etwa oder das Thema psychische Gesundheit.
Wera Hobhouse, Unterhaus-Abgeordnete, Liberaldemokraten
»Die Konzentration auf die Dinge, die für viele Menschen wirklich wichtig sind, die ist weniger scharf. Es ist gespenstisch, wie wenig passiert außer Brexit, und das ist natürlich schlimm.«
Diese Zeiten sind Geschichte. Die Proteste hatten am Ende keinen Erfolg. 2019 gab es Neuwahlen, Boris Johnson gewann haushoch, das Unterhaus segnete das Austrittsabkommen ab – der Brexit kam. Martin Cobb arbeitet als Verkaufsleiter für eine kleine Firma, die hochwertige Hifi-Kabel herstellt. Er spürt bereits erste Auswirkungen des EU-Austritts.
Martin Cobb, Verkaufsleiter
»Es ist jetzt nicht nur viel schwieriger für unsere Kunden, bei uns einzukaufen. Es ist auch schwieriger für uns, zu ihnen hin zu exportieren. Aufgrund des Papierkrams, den wir erledigen müssen, die Bürokratie, die wir auf uns nehmen müssen, um Produkte über die Grenze zu verschiffen. Auf einmal ist unser nächster Nachbar nicht mehr unser bevorzugter Markt. Ich denke, wir haben eine Art von Arroganz an den Tag gelegt. Ich finde das sehr enttäuschend.«
Mehr Formalitäten bestimmen auch bei Bettina Friedrich den Alltag nach dem Brexit.
Bettina Friedrich, University College London
»Ich habe jetzt den sogenannten ›pre-settled status‹, also ich darf offiziell im Land bleiben und weiterarbeiten und weiter Steuern zahlen. Was natürlich ein bisschen schwierig sein wird, ist, wenn man erst einmal das Land verlässt und dann wieder hier eine Arbeitsstelle anfangen will. Da braucht man wahrscheinlich ein Visum, wie ich das verstehe. Allerdings fühle ich mich ein bisschen privilegiert dadurch, dass ich im akademischen Bereich arbeite. Mir tun die Leute leid, die z.B. hier in der Gastronomie arbeiten. Wenn die mal das Land verlassen, wird es für die viel schwieriger hier noch mal angenommen zu werden. Die Briten picken sich auch schon raus, wen sie wollen.«
Wera Hobhouse, Unterhaus-Abgeordnete, Liberaldemokraten
»Viele von den Dingen, die der Brexit als politische Folge haben wird, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Im Moment ist natürlich alles durch die Covid-Krise verwischt.«
Martin Cobb, Verkaufsleiter
»Wäre es ein normales Jahr gewesen, wäre das überhaupt nicht der Fall gewesen. Der Brexit wäre viel lebendiger und aktiver diskutiert worden und die Leute hätten sich damit beschäftigt. Nun fühlt es sich an wie ein Schiff, das unbemerkt in der Nacht den Hafen verlässt.«
Bettina Friedrich, University College London
»Viele der Leute, mit denen ich protestiert habe, sie sagen, das ist unser nächster Schritt: Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass Großbritannien wieder der Europäischen Union beitritt. Ich glaube, dass es ein ziemlicher Weg sein wird, wenn es überhaupt noch mal passieren wird. Und mit der momentanen Regierung wird das auch ganz bestimmt nicht passieren.«
Ob Großbritannien der EU irgendwann wieder beitreten wird? Diese Remainer geben die Hoffnung nicht auf. Der Weg zurück wäre in jedem Fall lang – und unter der jetzigen Regierung undenkbar.