
Irland und Nordirland: Die kritische Grenzfrage
Brexit-Folgen Irlands Angst vor der neuen Grenze
Jean Hegarty dreht sich um und zeigt auf ihr Gesäß. "Hier schlug die Kugel in Kevins Körper ein." Ihr Finger fährt an ihrem Körper hoch, entlang des Wegs, den das Geschoss bis hinauf in den Oberkörper nahm. "Kevin wurde von hinten erschossen, als er versuchte, kriechend vor den Soldaten zu fliehen." Kevin McElhinney war einer von 13 unbewaffneten jungen Männern, die am "Bloody Sunday" ("Blutsonntag") des 30. Januar 1972 im nordirischen Derry starben. Er war Jean Hegartys kleiner Bruder. Er wurde nur 17 Jahre alt.
Hegarty - klein, rundlich, energiegeladen und mit ansteckendem Lachen - verbringt heute einen großen Teil ihres Lebens damit, an den "Blutsonntag" zu erinnern. Seit 18 Jahren leitet sie das kleine "Museum of Free Derry" in der Bogside, dem Katholikenviertel der Stadt an der irisch-nordirischen Grenze. Es steht nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an dem Hegartys Bruder starb. In Glasvitrinen erinnern Waffen, Patronenhülsen und Gasmasken an das Grauen.

Jean Hegarty
Foto: SPIEGEL ONLINEDer Konflikt zwischen katholischen Nationalisten und protestantischen Unionisten könnte nun erneut in den Fokus rücken: Die Irland-Frage gilt derzeit als die schwierigste Hürde in den Brexit-Verhandlungen, die Zeit für eine Lösung wird knapp. Es droht der Wiederaufbau einer harten Grenze mit Personen- und Warenkontrollen, möglicherweise gar ein Rückfall in die schon überwunden geglaubte Gewalt. Sollte sich keine Lösung finden, könnte Großbritannien ohne Austrittsabkommen aus der EU fliegen - auch auf Betreiben der irischen Regierung.
Derry - protestantische Unionisten bevorzugen den offiziellen Namen Londonderry - ist bis heute vom Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten gezeichnet, in dem mehr als 3600 Menschen starben. Das Karfreitagsabkommen von 1998 setzte dem Töten ein Ende, und es machte die rund 500 Kilometer lange Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland unsichtbar. Soldaten und Stacheldraht sind verschwunden. Autofahrer bemerken den Grenzübertritt heute nur noch daran, dass die Temposchilder Meilen statt Kilometer pro Stunde anzeigen.
Fast 1,9 Millionen Mal pro Monat überqueren Autos die virtuelle Grenze: Menschen fahren zum Arbeitsplatz, Lastwagen zu Fabriken, Krankenwagen zu Kliniken. Die beiden Teile der Insel sind im Alltag praktisch vereint. Der Brexit droht das nun abrupt zu beenden. Die virtuelle Grenze könnte sich wieder in eine echte verwandeln, an der Polizisten und Zöllner alles und jeden kontrollieren. Für die Wirtschaft der Insel wäre das eine Katastrophe - und womöglich auch für den Friedensprozess.
Die "Mother of all Duck"
Die Mutter aller Enten kommt aus Emyvale, glaubt man dem neuesten Werbevideo von Silver Hill Foods. Saftig und zart sei ihr Fleisch, flauschig ihre Daune. Die "bestgefiederte Ente der Welt" fülle nicht nur Mägen in aller Welt, sondern nebenbei auch Bettdecken und Kissen in zahlreichen Fünf-Sterne-Hotels. Die "Silver Hill Duck" sei einfach die "Mother of all Duck". An Entenfleisch-Hotspots wie Londons Chinatown habe sie es gar zum Monopol gebracht. "Da haben wir seit zehn Jahren einen Marktanteil von hundert Prozent", prahlt Silver-Hill-Geschäftsführer Micheál Briody. Der britische Markt sei - nun ja, gesättigt, weshalb man derzeit kräftig in Asien expandiere.

Micheál Briody
Foto: Julien BehalKommt die Sprache aber auf die irische Grenze, wird selbst Briody ein wenig schweigsamer. Drei Viertel der 80.000 Enten, die täglich im Silver-Hill-Werk in der Republik Irland getötet werden, kommen aus Nordirland. Vor ihrem Ableben überqueren Eier, Küken und Jungvögel bis zu fünf Mal die Grenze. Sollte es dort wieder Kontrollen geben, "hätte das eine bedeutende Wirkung auf unser Geschäft", sagt Briody. Zeit- und Kostenaufwand wären enorm. Seine Firma schließe schon jetzt keine neuen Verträge mehr mit Zulieferern in Nordirland. Man wisse ja nie.
Sollte Großbritannien gar ohne Handelsabkommen aus der EU austreten, würden auch noch WTO-Zölle von über 30 Prozent auf Entenfleisch fällig. Die Nachfrage aus Großbritannien würde dann wohl einbrechen, das Silver-Hill-Monopol in der britischen Hauptstadt wäre hinüber. "London müsste dann mit minderwertigen Produkten vorlieb nehmen", sagt Briody trotzig.
Für die Gesamtwirtschaft wären die Probleme noch größer. 80 Prozent aller Warenausfuhren der irischen Republik gehen nach Großbritannien, 66 Prozent werden von dort aus in weitere Länder verteilt. Die britische Landbrücke ist damit die Lebensader der irischen Wirtschaft - und entsprechend groß ist in Dublin die Furcht vor Zollbarrieren.
Irische Regierung droht mit Veto
Die irische Regierung erhöht deshalb derzeit in den Brexit-Verhandlungen massiv den Druck auf London. Dublin pocht auf eine schriftliche Garantie, dass es keine neue harte Grenze geben wird. Ansonsten, so die kaum verhüllte Drohung von Ministerpräsident Leo Varadkar, werde Irland sein Veto gegen den Eintritt in die zweite Brexit-Verhandlungsphase einlegen.
Der Inselstaat ist derzeit in einer selten machtvollen Position. Die anderen 27 EU-Staaten wollen mit der britischen Regierung erst dann über die gemeinsame Zukunft und ein Handelsabkommen reden, wenn es "ausreichende Fortschritte" in drei Fragen gibt: Londons finanziellen Verpflichtungen, den künftigen Rechten der betroffenen Bürger und der Irland-Frage. Diese Entscheidung müssen die Staats- und Regierungschefs einstimmig treffen. Ohne Irland geht nichts.
Doch während es bei den Bürgerrechten und selbst in der brisanten Frage der Austrittsrechnung Signale einer Einigung gibt, geht es in Sachen Irland kaum voran. Sollte es auch beim nächsten EU-Gipfel Mitte Dezember keinen Durchbruch geben, könnte der ohnehin knappe Zeitplan der Verhandlungen vollends kippen. Im Extremfall droht dann am 29. März 2019 ein Brexit ohne Austrittsabkommen, mit verheerenden Folgen vor allem für die britische, aber auch für die EU-Wirtschaft.
Iren wollen Chance nutzen
Die Iren wollen sich davon nicht beeindrucken lassen. Man brauche eine schriftliche Zusage zumindest über die Rahmenbedingungen für die künftige Grenze, sagte Irlands Außen- und Handelsminister Simon Coveney am Mittwoch in Belfast vor Journalisten aus mehreren EU-Ländern. "Wir können uns nicht auf das Versprechen verlassen, dass eines Tages ein Scheck in der Post sein wird."

Simon Coveney
Foto: Julien BehalZwar geben sich EU-Diplomaten zuversichtlich, dass die Iren es nicht zum Äußersten kommen lassen - und wollen notfalls auf Dublin einwirken. Doch sicher sein können sie sich nicht, denn die Regierung in Dublin befürchtet, dass sie nur diese eine Chance hat. Ist der Eintritt in Phase zwei der Brexit-Verhandlungen erst beschlossen, ist das irische Vetorecht dahin: Das Austrittsabkommen muss der Europäische Rat am Ende nur noch mit qualifizierter Mehrheit absegnen. "Wenn wir sagen, dass wir Klarheit in der Grenzfrage brauchen, dann meinen wir das", sagt Coveney. "Wir können und werden nicht zulassen, dass es auf der irischen Insel jemals wieder eine physische Grenze gibt."
Doch wie das vermieden werden kann, weiß niemand. Die britische Regierungschefin Theresa May hat wiederholt klargemacht, dass ihr Land am 29. März 2019 mit der EU auch deren Binnenmarkt und die Zollunion verlassen werde. Laut Gesetz müssten dann an der neuen EU-Außengrenze zu Nordirland Personen- und Zollkontrollen durchgeführt werden.
Unionisten lehnen Nordirland-Sonderstatus ab
Zwar betonte auch die britische Regierung in ihrem offiziellen Papier zur Irland-Frage, dass sie das nicht wolle und eine "nie dagewesene Lösung" anstrebe. Wie die aber aussehen soll, verriet London im Detail nicht. EU-Chefunterhändler Michel Barnier wies das britische Angebot prompt zurück.
Eine naheliegende Lösung, die auch Coveney vorschlägt, wäre, Nordirland einen Sonderstatus zu geben und es in Zollunion und Binnenmarkt zu belassen. Die Grenze würde damit praktisch auf die Irische See verlegt. Das aber lehnen die nordirischen Unionisten strikt ab: Sie wittern eine schleichende Loslösung Nordirlands von Großbritannien und einen Schritt zur Vereinigung Irlands. Das Problem: Die Unionistenpartei DUP sitzt seit Theresa Mays Desaster bei den vorgezogenen Wahlen in der Regierung. Platzt die Koalition, stürzt die Premierministerin.
Auf Basis der aktuellen Positionen sei die irische Frage derzeit unlösbar, heißt es in Diplomatenkreisen. Zudem sei völlig unklar, wo ein Kompromiss liegen könnte. Und ob das alles noch nicht genug wäre, droht nun auch noch eine Regierungskrise in Irland: Die Partei Fianna Fáil, Koalitionspartnerin von Varadkars Fine Gael, kündigte am Donnerstagabend ein Misstrauensvotum gegen die stellvertretende Ministerpräsidentin Frances Fitzgerald an. Damit steuert Irland auf Neuwahlen zu.
Letztlich, sagte Minister Coveney, gehe es um viel mehr als Handel und freien Personenverkehr: "Es geht um den Frieden." Eine neue harte Grenze, heißt es in Dublin, würde nicht nur zu wirtschaftlichen Schäden, erhöhter Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit führen, sondern böte auch ein neues Ziel für alten Hass. Nicht umsonst ist in Irland selten vom Frieden, viel öfter dagegen vom Friedensprozess die Rede - von einem Vorgang also, der noch lange nicht abgeschlossen ist.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels wurde Irlands Außen- und Handelsminister Simon Coveney als Landwirtschaftsminister bezeichnet. Wir haben den Fehler korrigiert.