Kleines Brexit-Lexikon Mitleid mit dem "Begretter"

Ein "Bremainer"
Foto: JUSTIN TALLIS/ AFPKennen Sie den Moment, den man nur mit Briten erlebt? Ich meine keine "Sorry"-Salven oder gekonnt ins Positive gedrehtes Rumdrucksen a la "I might join you later" - was ja nichts anderes bedeutet als: Heute sehen Sie mich bestimmt nicht wieder!
Ich spreche von einer anderen, bemerkenswerten Form der Kommunikation: Die individuelle Positionierung zum Brexit - jenem ebenfalls bemerkenswerten politischen Prozess, der mit der folgenden Definition ins "Oxford English Dictionary" aufgenommen werden sollte: "The undefined being negotiated by the unprepared in order to get the unspecified for the uninformed". So jedenfalls wünscht sich das die Redaktion der Zeitschrift "The New European", die sich zum Beispiel als "Pro-Remain and anti-Brexit" bezeichnet.
Egal mit wem ich spreche - ob Befürworter oder Gegner: Jeder bemüht sich mit erkennbarem Ehrgeiz, irgendwie die eigene Rolle in dem Theater um den Brexit zu beschreiben. Sie kann von totaler Zustimmung bis totaler Ablehnung reichen. Galt man vor dem Referendum am 23. Juni 2016 ganz einfach als "Eurosceptic" oder "Europhobe" auf der einen und als "Europhile" auf der anderen Seite, wird das Feld heute von den "die-hard leavers" und den "ardent remainers" abgesteckt.
Um die Hauptrolle des knallharten Anführers bemüht sich Außenminister Boris Johnson. Er ist der oberste "Brexiter", was so ausgesprochen wird wie "musketeer" und wahlweise auch "Brexiteer" geschrieben werden kann. Sein aktueller Sidekick ist ein Mann namens Jacob Rees-Mogg - für mich der erste "fogey Brexiter", ein englischer Kauz.
Als erbitterter Brexit-Gegner ist übrigens Ex-Premierminister Tony Blair aufgetaucht - der allerdings mehr mit einem anderen Label zu kämpfen hat, nämlich ein "political has-been" zu sein, den auf der politischen Bühne kaum jemand mehr ernst nimmt.
Dass es zwischen diesen Positionen zahlreiche sonderbare Abstufungen gibt, erlebte ich neulich mal wieder, als ich zu einem Abendessen beim britischen Botschafter in Berlin eingeladen war. Tischredner war Baron Peter Ricketts, früher nationaler Sicherheitsberater und Botschafter Ihrer Majestät in Frankreich und bei der Nato. Auf meine Frage, wie er zum Brexit stehe, antwortete er: "I am pragmatic soft Brexiteer". Also ein pragmatisch nachgiebiger EU-Gegner. Wie bitte?
Während uns in Deutschland die ungefragte politische Selbstpositionierung ungewöhnlich vorkommen mag, erinnerte mich ein befreundeter Historiker daran, dass sich die Deutschen in der späten Weimarer Republik ganz ähnlich verhielten: In der explosiven Stimmung der damaligen Zeit war man erpicht darauf, "politisch Farbe" zu bekennen. Der eine war rot, der andere schwarz, und leider immer mehr waren braun.
Mittlerweile kann man mit den verschiedenen Rollen für oder gegen den Brexit ein eigenes Vokabelheft füllen. Die meisten sind so genannte "Kofferwörter", wie der Brexit selbst: "Britain" + "Exit" = Brexit. Im Englischen haben sie ironischerweise einen französischen Namen: "Portmanteau". Da sie gerade für Außenstehende große Verwirrung stiften können, hier eine Übersicht:
Beleavers: ein Kampfbegriff, den die Zeitung "The Sun" vor dem Referendum am 23. Juni 2016 ausgerufen hat: "Beleave in Britain!" Es ist ein Wortspiel mit dem gleichen Klang von "believe" und "leave". Deutlich wurde dabei, dass sich die Einstellung vieler "Leavers" gegenüber Europa gerne aus ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Deutschland ableitet: "If we stay, Britain will be engulfed in a few short years by this relentlessly expanding German dominated federal state." Ob wir sie einfach "Kraut Leavers" nennen dürfen?
Bremoaners oder Remoaners: Briten, die gegen den Brexit gestimmt haben und ihn beklagen (Brexit + bemoan) oder schon immer für den Verbleib in der EU waren und auch klagen (Remain + bemoan). Von ihnen stammt auch das Wortspiel der "Brexistential Crisis". Die rechte Presse wettert kräftig gegen sie, die "Daily Mail" zum Beispiel schreibt: "Nörgelnd. Despektierlich. Unpatriotisch. Verflucht die Bremoaners und ihren Plan, den Willen des Volkes zu unterlaufen."
Releavers: Briten, die nicht für den Brexit gestimmt haben, aber mittlerweile dafür sind. Das berühmteste Beispiel ist Premierministerin Theresa May, die als "Remainer" ins Referendum am 23. Juni 2016 ging und seitdem versucht, die Regierung in die Gegenrichtung zu führen. In Deutschland kennen wir für diesen Sinneswandel einen anderen Begriff: "Wendehals" - a turncoat.
Begretters: Briten, die für den Brexit gestimmt haben, es aber mittlerweile bereuen. (Brexit + regret)
Remainiacs: Harte Kämpfer gegen den Brexit. Zum Beispiel Nick Clegg, der frühere Chef der LibDems. Der Philosoph Anthony Grayling. Oder der frühere Regierungssprecher Alastair Campbell, der von den "Brexiters" auch als "Arch-Remoaner" beschimpft wird.
Bremainers: Dasselbe wie "Remainers", nur als Wortspiel aus "Britain" + "remain".
Brexinos: Eine neue, wilde Abkürzung von "Brexit in name only". Es soll die Anhänger eines "soft Brexit" beschreiben, die sich einen ähnlichen Status für das Vereinigte Königreich wünschen wie zum Beispiel Norwegen: Man ist eng an die Regeln der EU gebunden, aber kein Mitglied. Der konservative Abgeordnete Bernard Jenkins machte den Begriff Mitte Dezember in der BBC populär, um diejenigen in seiner Partei bloßzustellen, die "genau genommen gar keinen Brexit wollen".
Dass sich die Fronten immer weiter verhärten und das politische Theater längst in ein Drama abgedriftet ist, zeigen die neuesten Anfeindungen im konservativen Lager gegen die so genannten "Tory Rebels" - Abgeordnete der Tory Party, die schlicht eine andere Meinung haben als ihre Regierung. Der "Daily Telegraph" hatte sie im November als "mutineers" angeprangert. Danach ist John Bercow, der Sprecher des Unterhauses, öffentlich eingeschritten und hat erklärt, kein Abgeordneter dürfe als Meuterer, Verräter oder gar Volksfeinde diffamiert werden, wenn er bloß nach seinem Gewissen handelt. Dass einige Rebellen sogar Morddrohungen erhalten haben, verurteilte Bercow als eine Form des Faschismus.
The devil lies in the detail - Folge 2: Noch mehr Lustiges und Lehrreiches über unsere Lieblingsfremdsprache
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25.03.2023 22.39 Uhr
Keine Gewähr
Für James O'Brian, den bekannten Radiomoderator des Londoner Senders LBC, ist das ganze Theater schon lange nicht mehr lustig. Er unterscheide nur noch zwischen zwei Arten von Brexiters, erklärte er in einer Sendung:
1. "Ego Brexiters", deren Stolz größer sei als der Intellekt, weil sie nicht erkannten, dass der Brexit die wirtschaftliche Lage des Vereinigten Königreichs nur scheinbar verbessere.
2. "Honest" oder "religious Brexiters", die sich nur wünschten, Ausländern das Leben schwerer zu machen. Für diese wohl nicht kleine Gruppe kursiert mittlerweile schon eine andere, ziemlich traurige Bezeichnung: "Nazi Brexiters".
Peter Littger ist Autor des Spiegel-Online-Bestsellers "The Devil lies in the Detail - Lustiges und Lehrreiches über unsere Lieblingsfremdsprache". Darin hat er im Kapitel "Die Ironie der Geschichte" auch über den Brexit geschrieben.