Austrittsrechnung für Großbritannien Die vier Probleme mit Johnsons Brexit-Drohung

Boris Johnson droht Schulden bei der EU platzen zu lassen, um einen besseren Brexit-Deal zu erzwingen. In Brüssel riskiert der womöglich künftige britische Premier, den letzten Rest Vertrauen zu verspielen.
Britischer Politiker Johnson: Kreatives Verhältnis zu Fakten

Britischer Politiker Johnson: Kreatives Verhältnis zu Fakten

Foto: HANNAH MCKAY/ REUTERS

Boris Johnson ist eben Boris Johnson - so ungefähr reagiert Brüssel auf die jüngste Drohung des Ex-Außenministers Großbritanniens, nach dem Brexit die Zahlung von 44 Milliarden Euro an die EU zurückzuhalten. Der Hintergrund: Johnson kämpft derzeit darum, Theresa May an der Spitze der Tory-Partei und im Amt des Premierministers abzulösen. Das tut er mit den gewohnten Mitteln: Hauptsache, der Effekt stimmt - der Wahrheitsgehalt ist eher zweitrangig.

Eigentlich ist die Sache klar geregelt: Großbritannien soll trotz Brexit bereits eingegangene Verpflichtungen erfüllen und die entsprechenden Beiträge zahlen - so haben es die britische Regierung und die EU-27 im Austrittsabkommen geregelt. Damit ist auch schon das erste Problem mit Johnsons Drohung genannt. Denn sollte Großbritannien seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen, wäre der gesamte Vertrag gefährdet.

"Sollte das Vereinigte Königreich seine Schulden nicht bezahlen, würde das einen Brexit ohne Deal und ohne Übergangsphase bedeuten", twitterte Jean-Claude Piris, früherer Chef des juristischen Dienstes des Europäischen Rats. Großbritannien würde dann am 31. Oktober ohne Abkommen aus der EU ausscheiden - was nach Ansicht der meisten Experten verheerende Folgen vor allem für die britische Wirtschaft hätte.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Twitter, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Externer Inhalt

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Zu einer Nachverhandlung des Deals ist die EU aber auch nicht bereit. "Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind nicht erpressbar", sagte der der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth der Nachrichtenagentur Reuters. "Ich sehe derzeit überhaupt keine Bereitschaft, die Verhandlungen noch einmal von vorn zu beginnen." Auch ein Sprecher der EU-Kommission stellte klar: "Die Wahl eines neuen Premierministers wird die vorliegenden Parameter nicht ändern."

"Das käme einem Staatsbankrott gleich"

Das zweite Problem mit Johnsons Drohung ist das Geld selbst, genauer gesagt: die Rückflüsse aus der EU. Johnson spielt hier dasselbe Spiel wie in der Kampagne zum Brexit-Referendum, als er auf einen roten Bus die Lüge plakatieren ließ, Großbritannien zahle 350 Millionen Pfund pro Woche an die EU. Dabei verschwieg er freilich den "Britenrabatt" und die Summen, die aus der EU nach Großbritannien fließen. Dann wären es nur noch 250 Millionen Pfund.

Ähnlich verhält es sich nun mit den 39 Milliarden Pfund (44 Milliarden Euro), die Johnson jetzt zurückhalten will. Denn eigentlich schuldet Großbritannien der EU grob geschätzt sogar 100 Milliarden Euro, etwa für Haushaltsverpflichtungen, Zusagen gegenüber EU-Institutionen oder Pensionen für Beamte. Manche Zahlungen sind noch für viele Jahre vorgesehen.

In dieser Zeit soll Großbritannien aber auch viele Milliarden zurückbekommen, etwa als Subventionen für Landwirte oder Zuschüsse für Infrastrukturprojekte. Dieses Geld wäre weg, sollte Großbritannien ohne Deal aus der EU ausscheiden. "Dann", meint ein EU-Beamter, "würden in Großbritannien ziemlich viele halb fertige Brücken herumstehen."

Das wären zudem wohl nicht die einzigen Folgen für die britische Wirtschaft. Sollte ein Premierminister Johnson seine Geld-Drohung wahr machen und internationale Verpflichtungen brechen, "käme das einem Staatsbankrott gleich, dessen Folgen wohlbekannt sind", sagte ein französischer Regierungsbeamter der Nachrichtenagentur Reuters. Der britische Wirtschaftsexperte Sir Mike Rake warnte  vor einer "schrecklichen Wirkung" auf Großbritanniens Ruf als internationaler Handelspartner. "Wir haben gesehen, was mit Ländern passiert, die ihre Schulden nicht bezahlen", sagte Rake.

Das Vertrauen wäre dahin

Und dann wäre da auch noch die Beziehung zur EU. Dass die Drohung mit dem Bruch von Finanzzusagen ein "großartiges Schmiermittel" für Verhandlungen sei, wie Johnson in seinem Interview  mit der "Sunday Times" behauptet hat, darf man getrost bezweifeln. "Sollten die Briten ihre Rechnungen nicht begleichen, würde die EU das als feindlichen Akt ansehen", sagt Guntram Wolff, Direktor des einflussreichen Brüsseler Thinktanks Bruegel. "Das Vertrauen wäre derart beschädigt, dass man jahrelang vermutlich überhaupt nicht mehr miteinander verhandeln würde."

Für Großbritannien könnten die Folgen verheerend sein - denn im Falle eines No-Deal-Brexits wäre auch die geplante zweijährige Übergangsfrist hinfällig, in der Großbritannien weiterhin vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt haben soll. Das Land wäre dann noch dringender auf ein schnelles Handelsabkommen mit der EU angewiesen - jene EU, die es eben erst brüskiert hat.

In Brüssel, Berlin und anderen EU-Hauptstädten geht man deshalb davon aus, dass die Briten ihre Rechnungen bezahlen werden - zumal britische Unterhändler sich derzeit geradezu hektisch darum bemühen, auch nach dem EU-Austritt in diversen EU-Programmen mitmachen zu dürfen, etwa im Forschungsprogramm Horizon 2020, beim Satellitenprojekt Galileo oder in der Sicherheitszusammenarbeit. Ohne Beitragszahlungen aber wäre das unvorstellbar. Johnsons Drohung dürfte deshalb unter den eigenen Beamten die größte Furcht verbreiten.

Entsprechend gelassen sieht man in Brüssel Johnsons Drohung. "Ernst nehmen muss man das nicht", meint ein EU-Diplomat. "Man weiß bei Johnson nie, was er wirklich denkt und was er nur sagt, um die nächste Wahl zu gewinnen." Das aber könnte für den vielleicht künftigen Premierminister noch zum Problem werden - denn das Vertrauen, das er im Rest der EU genießt, ist äußerst überschaubar. "Bei Johnson", meint der Diplomat, "werden wir deutlich aufmerksamer und misstrauischer sein als bei Theresa May."

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren