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Mays neuer Brexit-Kurs Die Kehrtwende

Das britische Parlament darf wohl über einen Brexit-Aufschub abstimmen, bisher hatte Premier Theresa May dies abgelehnt. Ein geschicktes Manöver - für den Moment.

Es gibt diese Sätze, die Theresa May in den vergangenen Jahren immer und immer wieder aufgesagt hat - beinahe wie ein Mantra. "Brexit heißt Brexit", zum Beispiel. Oder: "Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal". Das sollte wohl nach klarem Kurs aussehen in Zeiten, in denen die britische Politik von Chaos geprägt war.

Zumindest einen dieser Sätze hat die Premierministerin nun abgeräumt. Noch im November hatte sie versichert, "dass wir die EU am 29. März nächsten Jahres verlassen". Davon kann nun keine Rede mehr sein.

Als May am Dienstag vor das Unterhaus in London trat, hatte sie einen Dreistufenplan dabei. An dessen Ende könnte ein Brexit-Aufschub stehen, sagte May, eine "kurze, begrenzte Ausweitung" des Zeitraums bis zum EU-Austritt.

Druckmittel dahin

Gemäß Artikel 50 der Lissabon-Verträge läuft Ende März die zweijährige Frist ab, innerhalb derer sich London mit Brüssel auf ein Ausstiegsabkommen einigen kann. Es gehörte bislang stets zu Mays Strategie, auf diesen Tag zu beharren. Die immer realer werdende Gefahr eines ungeregelten Brexits diente ihr als Druckmittel in Brüssel und bei den Zweiflern in der Heimat, die ihr EU-Abkommen nicht akzeptieren wollen.

Dieses Druckmittel ist nun vorerst dahin. Es ist ein Kurswechsel.

Mitte März will May die Abgeordneten nun vor gleich mehrere Entscheidungen stellen:

  • Spätestens am 12. März soll das Unterhaus erneut über das EU-Abkommen der Premierministerin abstimmen. Bei einem ersten Votum darüber im Januar war May krachend gescheitert. Seither versucht sie, in Brüssel weitere Zugeständnisse auszuhandeln.
  • Lehnt eine Mehrheit den Deal ab, dürfen die Abgeordneten wohl am 13. März entscheiden, ob sie auch einen harten Brexit ohne Abkommen akzeptieren wollen. Auch ein solches Votum hatte May bislang stets abgelehnt.
  • Stellen sich die Parlamentarier jedoch auch gegen ein "No Deal"-Szenario, käme es voraussichtlich am 14. März zur nächsten Abstimmung: über die Frage, ob die Regierung in Brüssel um mehr Zeit bitten soll.

Es ist wahrscheinlich, dass es genau so kommt. Denn die EU weigert sich weiterhin, den sogenannten Backstop, den Notfallmechanismus für die irische Insel, aus dem vorliegenden Vertrag zu streichen. Das aber ist die Forderung der Brexit-Hardliner in Großbritannien. Andernfalls wollen sie keinem Abkommen zustimmen.

Und ein ungeregelter Brexit hätte wohl schwere und kaum kalkulierbare Folgen für die britische Wirtschaft. Kürzlich hatte sich eine Mehrheit der Abgeordneten schon einmal gegen einen "No Deal" ausgesprochen. Das Votum war damals nur nicht bindend. Doch warum nun Mays Kehrtwende?

Rücktrittsdrohungen in der Regierung

Zuletzt war der Druck auf die Premierministerin aus den eigenen Reihen noch einmal gestiegen. Gleich mehrere Regierungsmitglieder hatten May mit Rücktritten gedroht, sollte diese einen harten Brexit nicht verhindern. Zu den Rebellen im Kabinett werden etwa Arbeitsministerin Amber Rudd, Energieminister Greg Clark und Justizminister David Gauke gezählt.

Sie seien bereit gewesen, ihre Ämter niederzulegen, heißt es - um bei der bevorstehenden Parlamentsabstimmung am Mittwoch für einen Antrag stimmen zu können, der "No Deal" ausschließen soll.

In dieser Woche können die Abgeordneten mit eigenen Anträgen Einfluss auf den weiteren Brexit-Kurs nehmen. Die Labour-Politikerin Yvette Cooper und der Tory-Mann Oliver Letwin hatten eine Initiative angekündigt mit dem Ziel, die Regierung per Gesetz zum Brexit-Aufschub zu zwingen, sollte bis Mitte März keine Einigung stehen. Für May besonders unangenehm: Ein Votum für dieses Papier hätte dem Parlament darüber hinaus weitere Mitspracherechte bei den Brexit-Verhandlungen übertragen.

Gefahr gebannt

Der Antrag schien besonders gute Chancen zu haben, zumal auch Labour-Chef Jeremy Corbyn die offizielle Unterstützung seiner Partei zusicherte. Doch diese Gefahr hat May nun gebannt. Initiator Letwin zeigte sich mit deren Rede zufrieden: "Keine Notwendigkeit jetzt für Cooper-Letwin-Gesetz", twitterte er noch am Dienstag. Doch noch viel wichtiger: May ist es damit wohl auch gelungen, die Rebellion in den eigenen Reihen abzuwenden - vorerst.

Es ist ein geschicktes Manöver, dass May da vollzieht. Denn einerseits öffnet sie die Tür für eine Verzögerung im Brexit-Prozess. Gleichzeitig geht sie aber selbst auf größtmögliche Distanz zum Aufschub. Sie wolle all das nicht, betont sie.

Damit verhindert die Premierministerin eine unmittelbare Revolte der Hardliner. Bis auf einige erboste Kommentare bleiben die Mitglieder der erzkonservativen Tory-Organisation "European Research Group" denn auch erstaunlich gelassen. ERG-Chef Jacob Rees-Mogg bemerkt lediglich, die Drohung mit einem kurzen Aufschub reiche nicht, um die Brexiteers für Mays Deal zu erwärmen. Nur wenn die Premierministerin den Brexit grundsätzlich stoppen wolle, wäre das der "schwerste Fehler".

Probleme für Labour

Und auch Labour bereitet May Probleme. Die Partei war gerade erst mit der Ankündigung in die Offensive gegangen, im Zweifel auf ein zweites Referendum zu drängen. Mit der Perspektive des Aufschubs dürfte es jetzt noch schwerer werden für Jeremy Corbyn und seine Leute, Tory-Abgeordnete für den Vorstoß zu gewinnen.

Im Video: Jeremy Corbyn und das zweite Referendum

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Stattdessen hat May auch für die Opposition eine Botschaft: In ihrer Rede verspricht sie, das Parlament dürfe dafür sorgen, dass Arbeitnehmerrechte auch nach dem Brexit nicht hinter EU-Standards zurückfallen. Und die Regierung werde Brüssel um Zusicherungen für die britischen Ausländer in der EU bitten.

Doch auch wenn sich May an diesem Tag erneut aus einer brenzligen Situation befreit hat - das eigentliche Problem bleibt: Eine Einigung beim Brexit ist nicht in Sicht. Es ist nach wie vor völlig unklar, auf welche Lösung am Ende die Regierung setzen will.

Mehrere Abgeordnete fragten May am Dienstag, zu welcher Entscheidung sie ihre Tory-Fraktion bei einer Abstimmung über den Aufschub auffordern würde. Jedes Mal wich die Premierministerin aus. Ein Sprecher erklärte später, diese Frage stünde jetzt nicht an. Und überhaupt: Wie lange sollte eine solche Verschiebung eigentlich sein? Die Antwort blieb denkbar vage: "So kurz wie möglich."

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