Brexit - und jetzt? "Das eigentliche Drama dürfte erst noch losgehen"
Großbritanniens Austritt ist fix, doch die Handelsbeziehungen zu den EU-Mitgliedstaaten sind noch ungeklärt. Warum die Übergangsphase vermutlich viel zu kurz sein wird.
An der Ständigen Vertretung Großbritanniens in Brüssel wurden die Flaggen eingeholt - die britischen EU-Abgeordneten sind abgereist. Und nicht alle von ihnen waren traurig darüber.
Ann Widdecombe, EU-Abgeordnete, Brexit-Partei
Heute feiern wir den Beginn unserer Unabhängigkeit. Unsere Fähigkeit, Kontrolle über unsere Gesetze zu haben, unsere eigenen Handelsabkommen, unsere eigenen Grenzen ...
Wie geht es jetzt weiter mit der EU und Großbritannien?
Markus Becker, EU-Korrespondent DER SPIEGEL
Hier in Brüssel herrscht eine etwas seltsame Stimmung. Es- ist eine Mischung aus Trauer, aus Überdruss und aus Entschlossenheit. Trauer deswegen, weil natürlich viele das große, wirtschaftsstarke, einflussreiche Großbritannien in der Union gehalten hätten. Überdruss, weil auch viele nach dreieinhalb Jahren Brexit-Drama einfach die Nase voll haben und sich auch ganz gerne wieder anderen Sachen zuwenden würden. Und Entschlossenheit, weil nämlich jetzt die zweite Phase der Gespräche beginnt. Das eigentliche Drama dürfte jetzt erst losgehen. Denn jetzt geht es um die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien. Die Briten wollen einen Zugang zum EU-Binnenmarkt, der so weitgehend wie möglich ist. Da ist oft vom "reibungslosen Handel" die Rede. Gleichzeitig aber wollen sie ihre eigenen Regeln machen. Klar, sonst wäre der ganze Brexit eigentlich sinnlos. Hier in Brüssel ist man sich aber darüber im Klaren: Beides zugleich kann es nicht geben.
Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin
Wir werden unsere Unternehmen sicherlich nicht unfairem Wettbewerb aussetzen!
Markus Becker, EU-Korrespondent DER SPIEGEL
Und schon gar nicht will man akzeptieren, dass die Briten vor den Toren der EU eine Art Singapur an der Themse aufbauen, damit also die Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards der EU unterlaufen, um ihren eigenen Unternehmen Vorteile zu verschaffen, und gleichzeitig noch irgendwie Zugang zum Binnenmarkt haben. Das sieht nicht nur die EU-Kommission so, sondern auch die Mitgliedsstaaten, bei denen auch einige hinter vorgehaltener Hand sagen: Notfalls müsse man die Verhandlungen mit den Briten erst einmal scheitern lassen. Denn das würde die Briten am Ende viel härter treffen als die EU.
Allein die Zahlen zeigen, wie sehr Großbritannien an erfolgreichen Verhandlungen gelegen sein müsste: 45 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU. Dagegen gehen nur etwa sieben Prozent der EU-Exporte nach Großbritannien. Es wird aber nicht nur um Handelsgespräche gehen, sondern auch um viele andere Bereiche wie Verbrechensbekämpfung oder Energie- und Umweltfragen.
Markus Becker, EU-Korrespondent DER SPIEGEL
An dieser Stelle wird es dann nochmals schwieriger. Denn für einige dieser Bereiche ist allein die EU-Kommission zuständig. Für manche teilt sie sich die Zuständigkeit mit den Mitgliedsstaaten, und für viele andere Bereiche sind die Mitgliedsstaaten alleine zuständig. Das heißt, ein allumfassendes Abkommen müsste nicht nur vom Rat der Mitgliedsstaaten verabschiedet werden, sondern auch von allen Parlamenten aller EU-Staaten. Das heißt sogar manchmal von Regionalparlamente wie zum Beispiel das der belgischen Wallonie. Ein solches allumfassendes Mega-Abkommen, darüber sind sich hier in Brüssel so ziemlich alle einig, ist bis zum Jahresende unmöglich zu schaffen.
Bis zum 31. Dezember läuft jetzt die Übergangsphase, in der Großbritannien zwar noch EU-Mitglied ist, aber keine Stimmrechte mehr hat. Eine Verlängerung dieser Phase hat die britische Regierung kategorisch ausgeschlossen.
Markus Becker, EU-Korrespondent DER SPIEGEL
Unter dem Strich bleiben für die Verhandlungen wahrscheinlich sogar nur gut acht Monate. Denn die EU-Kommission muss erst einmal ein neues Verhandlungsmandat vom Rat der Mitgliedsstaaten bekommen, was vermutlich erst im März passieren wird. Und schon bis Mitte November müssen die Verhandlungen wohl abgeschlossen sein, wenn noch genug Zeit bleiben soll, um das Abkommen zu ratifizieren. In einer so kurzen Zeit wird es vermutlich nur möglich sein, dass man ein rudimentäres Handelsabkommen abschließt, um die wichtigsten Fragen zu klären und zu verhindern, dass am Jahresende das Chaos ausbricht. Es deutet vieles darauf hin, dass der Brexit die EU und auch Großbritannien noch über viele Jahre beschäftigen wird.